© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

It’s the philosophy, stupid!
Der Philosoph Harald Seubert sucht den Ort der Philosophie in der naturwissenschaftlich-technischen Welt
Felix Dirsch

Der Aderlaß der einst umfassenden Disziplin der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert ist groß. Durch die fortschreitende Spezialisierung separieren sich viele Teilbereiche. Mit dieser Emanzipationsbewegung werden freilich der tiefere Sinn der Philosophie und ihre Bedeutung für die Gesellschaft zunehmend unklar. 

Wozu Philosophie? Diese Frage wird auf vielen Kongressen und in zahllosen Publikationen gestellt. Eine neue Schrift über diesen Themenbereich bringt nun der Philosoph Harald Seubert, der vielleicht produktivste Zunftvertreter seiner Alterskohorte, auf den Markt und findet einige weiterführende Gesichtspunkte.

Eine Antwort auf das zunehmende Dilemma der mehr und mehr ausgedünnten Philosophie seitens der von Technik und Empirie dominierten Wissenschaftswelt ist der Reduktionismus. Viele Repräsentanten der hard sciences, an ihrer Spitze unverbesserliche Szientisten, wollen Philosophie auflösen in logische Sprachanalysen. Mathematische Operatoren sollen den Fortschritt garantieren. Die neopositivistisch ausgerichteten Wiener Kreise gelten diesbezüglich noch heute als Vorbild. Harald Seubert ist diesen Versuchen der Substitution der traditionellen Philosophie, die die Fragen nach Sinn, Gott und Glück in den Mittelpunkt des Nachdenkens rückt, durch verifizierbare oder falsifizierbare Methodik abgeneigt.

Jahrhundertealten Kanon nicht für obsolet erklären

Im ersten Teil („Stasis“) beschäftigt sich der in Basel tätige Gelehrte hauptsächlich mit dem Erbe des von ihm vertretenen Faches. Ein gewichtiges Kapitel, das die traditionelle Sicht des Verfassers unterstreicht, lautet nicht zufällig: „Rechne mit deinen Beständen“ (Gottfried Benn). Eifrig kämpft er gegen die in progressiven Kreisen verbreitete Haltung, man könne einfach aus dem über Jahrhunderte, teilweise Jahrtausende gewachsenen Kanon einige Disziplinen herausschneiden und sie für obsolet erklären. Immer noch ist es für manche Repräsentanten chic, vom „nachmetaphysischen Denken“ (Jürgen Habermas) zu fabulieren. Wie sehr die Geschichte dieses althergebrachten akademischen Faches auch seine Gegenwart bestimmt, wird an verschiedenen Renaissancetendenzen deutlich: Die einst als fortschrittlich eingestufte Analytische Philosophie, die auf exakte Grundlagen besonderen Wert legt, nimmt in den letzten Jahren immer mehr Gedankengut der deskriptiven Metaphysik als auch der Ontologie auf. Ausführlich werden die klassischen Wahrheitskonzeptionen erörtert.

In diesem Teil wagt Seubert einen kurzen Durchgang durch den philosophischen Kanon: Logik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Metaphysik, Kunstphilosophie, Religionsphilosophie, Sprachphilosophie, Anthropologie, Naturphilosophie, praktische Philosophie, Geschichtsphilosophie, angewandte Ethik und einige mehr. Wenngleich eine solche Zusammenstellung naturgemäß nicht vollständig sein kann, liefert sie doch einen guten Überblick über wichtige Trends. Seuberts Ziel ist es, den Gesprächsfaden der Disziplinen auch im Zeitalter forcierter Ausdifferenzierung und universitärer Modularisierung nicht abreißen zu lassen.

Der zweite Abschnitt („Kinesis“) beschäftigt sich primär mit neuzeitlichen Denkmethoden, darunter finden sich Dialektik, Systemdenken, Dekonstruktion, Hermeneutik, Phänomenologie und weitere. Auch in diesen Passagen, die vor allem Tendenzen moderner Philosophie in den Mittelpunkt stellen, kommen alteuropäische Lebensformen nicht zu kurz, wie das Kapitel „Und wer ist der Philosoph?“ zeigt. Darüber hinaus fehlen Gedanken zum Verhältnis von Philosophie und Literatur nicht, ebensowenig wie solche zur Relation von Philosophie und Öffentlichkeit.

Das abschließende Kapitel dreht sich um die Zukunft der Philosophie. Gelegentlich wird ihr Tod als absehbar betrachtet. Dennoch fühlt sich keine Wissenschaft dazu berufen, hinter die eigenen Methoden und fixierten Welterklärungen zu blicken. Seubert strebt die Konzeption einer „Grundphilosophie“ an, die „den veränderten Welt- und Wissensformen gewachsen“ sei. Es bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um eine erste Philosophie handeln wird, die seit der griechischen Klassik als vornehmliche Aufgabe der Philosophie gesehen wird.

Seuberts neueste Monographie belegt, wie auch die anderen zuletzt veröffentlichten Schriften, daß das mitunter zu hörende Lamento, in der mittleren Generation der Philosophen fehlten die orientierungsstiftenden Namen, pauschal nicht den Tatsachen entspricht.

Harald Seubert: Philosophie. Was sie ist und sein kann. Schwabe-Verlag, Basel 2015, gebunden, 342 Seiten, 48 Euro