© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

„Bürgerliche statt radikale Antworten“
Wahlsiege, Rekordumfragewerte, Programmparteitag – die AfD ist auf der Überholspur. Doch die Partei droht falsch abzubiegen, warnt der Meinungsforscher und ehemalige Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner
Moritz Schwarz

Herr Schöppner, derzeit kann die AfD kaum noch gehen vor lauter Kraft.

Klaus-Peter Schöppner: Stimmt, dennoch sind die Risiken für die Partei größer als die Chancen. 

Schwarzmalerei!

Schöppner: Meinen Sie?

Laut Insa liegt sie bundesweit bei über 13, laut Infratest sogar bei 14 Prozent! 

Schöppner: Richtig, aber etwa neunzig Prozent der Wähler insgesamt und rund fünfzig Prozent der AfD-Wähler nehmen sie dennoch nur als Protestpartei wahr.

Na und? Immer mehr Bürger sind sauer auf die Etablierten. Protest ist „in“.

Schöppner: Nein, ein reines „Dagegen“ trägt auf Dauer nicht. 

Die erstaunlichen AfD-Landtagswahlerfolge vom März sprechen doch für sich!

Schöppner: Sind Sie sicher, daß das wirklich Landtagswahlen waren?

Was bitte sonst? 

Schöppner: Viele Wähler haben sie vor allem als Plebiszit über die Flüchtlingspolitik betrachtet.

Was wollen Sie damit sagen?

Schöppner: Daß die Wähler die AfD lediglich zum Instrument ihres Protests gemacht haben. Motto: „Bis hierhin, liebe Etablierte, und nicht weiter!“

Mag sein, aber warum ist das ein Problem?

Schöppner: Weil Proteststimmen flüchtige Stimmen sein können. Im Moment ist die Stimmung angeheizt und es scheint selbstverständlich, daß sich der politische Unmut Bahn bricht. Das kann sich unter Umständen aber rasch ändern. 

Sie raten, die AfD sollte sich nicht auf dem Rückenwind ausruhen, den ihr die Flüchtlingskrise verleiht?

Schöppner: Parteien stehen grundsätzlich immer im politischen Wettbewerb – und können sich nie ausruhen. Was die Asylkrise angeht: Die Zuzugszahlen sind rückläufig, und bekanntlich kehren inzwischen immer mehr Asylsuchende zurück in die Heimat, weil sich hier ihre Hoffnungen nicht erfüllt haben. 

Angesichts der Flüchtlingsströme weltweit wird die Krise leider wohl anhalten. 

Schöppner: Wenn sich die Massen des südlichen Kriegs- und Armutsgürtels – also Jemen, Eritrea, Somalia, Süd-Sudan bis hin nach Mali – auf den Weg machen, dann wohl in der Tat. Allerdings werden dann auch die etablierten Parteien ihren Kurs ändern, so daß die AfD keineswegs mehr so relativ konkurrenzlos dastünde wie jetzt. 

Aber wird ihr bei dem Thema vom Wähler nicht die größere Kompetenz zugesprochen?

Schöppner: Damit sind wir wieder am Anfang: die AfD als Protestpartei. Das heißt, sie gilt vielen Wählern als „Hinweispartei“ – aber eben nicht als Problemlösungspartei. Doch nur wem auch Problemlösungskompetenz zugeschrieben wird, hat auf lange Sicht Chancen. 

Die AfD macht durchaus inhaltliche Vorschläge, warum wird sie dennoch vor allem als Protestpartei betrachtet?

Schöppner: Weil der Freiraum, in dem sie sich entwickelt hat, überhaupt erst durch die Etablierten geöffnet wurde. Und zwar indem diese drei Fehler gemacht haben: Erstens, traditionelle Positionen zu räumen und damit viele Wähler zu enttäuschen. Das betrifft vor allem die Union, die viele Konservative heimatlos gemacht hat. Zweitens, immer mehr redlichen Bürgern den Eindruck zu vermitteln, sie würden sich nicht für deren Sorgen interessieren. Um jene, die keine Probleme bereiten, kümmern sich die Parteien höchstens am Rande. Sigmar Gabriel reagierte jüngst richtig, als er forderte, mehr für sozial Schwache zu tun. Drittens, vor allem in der Flüchtlingskrise nicht glaubwürdig zu sein. Etwa wenn es hieß, die meisten Zuwanderer seien beruflich qualifiziert. Wie sich herausstellte, stimmt das nicht. Fazit: Die Etablierten haben den Spielraum für die AfD überhaupt erst geschaffen. 

Und deshalb besteht für sie auch die Gefahr, daß die Etablierten ihren Spielraum wieder verengen könnten?

Schöppner: Eben. Die AfD hat etwa 75 Prozent demokratisch verankerte Wähler. Wer unter den Etablierten meint, mit diesen – zur Strafe weil sie AfD gewählt haben – nicht mehr reden zu müssen, der hat die Gründe der meisten nicht verstanden. Andererseits gilt auch, daß diese Wähler von den Etablierten wieder zurückgeworben werden können. Die Tatsache, daß so viele Wähler die AfD als Protestpartei verstehen, zeigt, daß sie ihre AfD-Wahl durchaus als Aufforderung an die Etablierten verstehen, sich eben um ihre Belange zu bemühen! 

Das hieße, die CDU müßte nach rechts rücken. Unter Merkel kaum vorstellbar.

Schöppner: Sie irren, wenn Sie glauben, das müßte sie in toto tun. Es könnte reichen, Merkel mit „mehr Seehofer“ zu kombinieren: Seehofer in der Wächterfunktion. Etwa jeder zweite AfD-Wähler gab zuletzt an, CSU wählen zu wollen, würde diese bundesweit antreten. Etwa 25 Prozent der AfD-Wähler waren sogar vorher CDU-Wähler. Dazu kommen bis zu fünfzehn Prozent AfD-Wähler aus dem Reservoir der Nichtwähler, die zuvor Unions-Wähler waren. So daß die CDU bis zu vierzig Prozent der AfD-Wähler ansprechen könnte. 

In Baden-Württemberg verhilft die Union den Grünen zur Macht, für 2017 faßt sie eine Koalition mit ihnen im Bund ins Auge. Da ist das doch eher unwahrscheinlich.

Schöppner: Mag sein, aber bis 2017 ist noch viel Zeit. Fakt ist, daß irrt, wer sich einbildet, die AfD-Wähler wären in der Mehrheit ideologisch überzeugt. Unter ihnen dominiert vielmehr die Stimmung: Ich will so bleiben wie ich bin! Gerade in Zeiten einer ungewissen Zukunft. Dieses Bedürfnis bedienen die Etablierten derzeit nicht. – Derzeit. 

Dennoch können Sie die Frage, ob die CDU überhaupt willens ist, eine Rückgewinnungsstrategie zu verfolgen, doch nicht ignorieren?

Schöppner: Das tue ich auch nicht. Wichtiger ist die Frage, ob die AfD die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen kann. Die Personaldecke der AfD ist äußerst dünn, und es wird ihr schwerfallen, alle ihr durch die enormen Wahlerfolge im März zugefallenen Positionen mit kompetenten Leuten zu besetzen. Hier droht, daß die AfD ihre Protestwähler rasch enttäuschen könnte. Doch auch bei den Überzeugungswählern besteht Gefahr. Zwar sind das die Wähler, die der Partei in bestimmten Bereichen auch Problemlösungskompetenz zubilligen, nur herrschen unter ihnen recht unterschiedliche Ansichten darüber, wie diese Lösungen aussehen sollen. Ein Teil dieser Stammwähler droht verlorenzugehen, wenn ihre politischen Hoffnungen enttäuscht werden, weil sich die alternative Linie durchsetzt. 

Derzeit bilden sich in Deutschland – statt der klassischen Lager Links und Rechts – zwei neue: jenes der Etablierten, die meinen, die großen Probleme könnten nur „europäisch“ gelöst werden, und ein alternatives, das im Zweifel nationale Lösungen vorzieht. Hält diese neue Lager-Logik die AfD-Stammwählerschaft nicht auch über Enttäuschungen hinweg zusammen? 

Schöppner: Da ist zwar etwas dran, allerdings beachten Sie nicht, daß dies nur der Teil der politisch interessierten Wähler reflektiert. Und das sind nur etwa 25 Prozent. Die große Mehrheit dagegen trifft ihre Wahlentscheidung nicht aufgrund einer klaren Vorstellung davon, welcher Lösungsweg der bessere ist, sondern danach, wem sie ganz allgemein die Lösungskompetenz zubilligt. Und hier haben die Etablierten nach wie vor erheblichen Vorsprung.

Nach dem Euro will sich die AfD in Zukunft besonders dem Thema Islamisierung widmen. Wird das funktionieren?

Schöppner: Die Frage ist, wen will  sie so ansprechen? Ressentimentgeladene Protestwähler oder bürgerliche Wähler? Sind es letztere, muß sie Ambivalenz zeigen: Einerseits sind wir ein tolerantes Land und erkennen auch Andersdenkende an, andererseits aber zählen auch unsere Interessen! Diese sind ja keineswegs immer in der Debatte um den Islam in Deutschland zu finden. Ein Problem ist allerdings, daß das Thema jene Vorwürfe zu bestätigen scheint, die gegen die AfD kolportiert werden: „Ausländerfeindlichkeit“ und „Rassismus“.

Also, was tun?

Schöppner: Um beim klassisch bürgerlichen Wähler Erfolg zu haben, muß man Abstand zur Ausländerfeindlichkeit halten. Die Deutschen sind nicht per se gegen Ausländer und Flüchtlinge, sondern sie stören die drei großen „M“: das „Muß“, das „Maß“ und die „Mitte“. Das heißt: Man muß diejenigen ohne Bleiberecht auch abschieben können. Sowie, daß wir das Maß verlieren, wenn deren Zahl zu groß wird. Und sie ärgert, daß die „Mitte“ aufgegeben wird: Die Bürger wollen die Nöte der Flüchtlinge und die der bedürftigen Bundesbürger gleichwertig behandelt wissen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, wir müßten uns auf Kosten von Einwandererinteressen zurücknehmen.Das alles ohne den Beigeschmack von  Ausländerfeindlichkeit.

Sondern?

Schöppner: Inländerfreundlichkeit.

Was ist das?

Schöppner: Das bedeutet die Anerkennung der Tatsache, daß Deutschland das Land ist, in dem die Deutschen zu Hause sind. Das bedeutet die Anerkennung der Lebensleistung der Deutschen. Es bedeutet Anerkennung, daß die Politik hierzulande sich vor allem um die Verbesserung der Lebenssituation der Angestammten zu kümmern hat. Das heißt nicht, daß Ausländer nicht willkommen sind, nicht auch dazugehören und hier zu Hause sein können. Aber Ziel der Politik muß das eigene Volk und nicht die Zuwanderer sein. Diese können aber – bei entsprechender Leistung und Integration – natürlich mit an unserem Gemeinwohl profitieren.    

Ein Programm also, das leicht als ausländerfeindlich ausgelegt werden kann, selbst wenn es das nicht ist, wäre ein Problem? 

Schöppner: So ist es. Man muß eine ambivalente Agenda haben, die deutlich macht, daß man nicht nur die eine, sondern beide Seiten sieht. Die aber auch klarmacht, wo der Schwerpunkt liegt – nämlich beim Wohl der Einheimischen.

Ist das nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit? 

Schöppner: Das würde man meinen, aber wir haben in Deutschland eine Gesellschaft, die mehrheitlich aus Transfer-empfängern besteht: Geld ist einfach „da“! Leistungsbezieher müssen nicht für ihren Unterhalt auf dem freien Markt kämpfen. Das hat das Entstehen einer Gutmenschen-Attitüde begünstigt. Daran Kritik zu üben und auf die finanziellen und gesellschaftlichen Gefahren hinzuweisen, ist nicht verkehrt. Dagegen rabiat anzugehen dagegen schon. 

Ein erheblicher Teil der AfD sieht sich allerdings nicht in der Rolle bürgerlicher Reformer, sondern eher als „systemalternative“ Wutbürger. Das ist in einer Demokratie natürlich legitim, aber ist es auch klug?

Schöppner: Es führt bei einem Teil der Wähler zu Applaus. Bei einem großen Teil der bürgerlichen Wähler verhindert es allerdings, daß die AfD als Partei der Ambivalenz, also des Ausgleichs als Antwort auf bestehende Einseitigkeiten wahrgenommen wird. Eher entsteht der Eindruck, als würde sie die Einseitigkeit der einen Seite mit Einseitigkeiten aus der anderen Richtung beantworten. Also „Ausländerfreundlichkeit“ nicht mit Inländerfreundlichkeit ausgleichen, sondern mit Ausländerfeindlichkeit. Sprich, eine radikale statt eine bürgerliche Antwort geben. 

Man hat den Eindruck, daß nicht nur Flügelexponenten der Partei diesen Provokationskurs steuern, sondern mittlerweile auch Teile des Bundesvorstandes stärker in diese Richtung streben. Stimmt das?

Schöppner: Das kann ich nicht beurteilen. Aber ein Problem der AfD ist eindeutig, daß sie keine Politiker hat, denen bürgerliche Wähler der Mitte per se vertrauen. Dabei handelt es sich übrigens um jenen Bonus, von dem etwa Angela Merkel oder Winfried Kretschmann profitieren und die ihre hohen Zustimmungswerte in Umfragen über die Zustimmungswerte für ihre Parteien hinaus erklären. Merkel oder Kretschmann erzeugen bei bürgerlichen Wählern das Gefühl, daß sie überparteilich gute Absichten haben, sie sich also allen Bürgern und nicht nur ihren Wählern verpflichtet fühlen. Der AfD fehlen dagegen genau solche Empathie-Politiker, die den Eindruck erwecken, sie hätten in jedem Fall gute Absichten, um auch jene zu überzeugen, die mit der AfD-Programmatik nicht konform gehen. Ganz im Gegenteil, die „Schießbefehl“-Äußerungen haben Verheerendes angerichtet. Genau diese Aura der guten Absicht aber ist ein wichtiges Element für den Erfolg bei bürgerlichen Wählern! 

Wie kommt die AfD statt dessen „rüber“?

Schöppner: Mein Eindruck vom Auftritt der AfD nach den jüngsten Wahlsiegen war überwiegend: Wir haben es denen gezeigt! Wir haben es immer gewußt! Jetzt erst recht! Wir wollen nicht regieren, wir sind die Opposition! Sprich nicht vertrauensbildend, sondern provokativ, auftrumpfend und drohend. Bürgerliche Wähler goutieren zwar Selbstsicherheit einerseits, andererseits aber auch Demut, Respekt und Sichzurücknehmen. Motto: Wir sind uns der Größe des Auftrags, den uns die Wähler erteilt haben, bewußt und machen uns konstruktiv an die Sacharbeit. 

Sie sagen selbst, daß die AfD vom Protest lebt. Wäre ein leiser Auftritt also nicht eben genau das Falsche?

Schöppner: Provokation, das ist in der ersten Phase richtig, um bekannt zu werden. Das hat die AfD hinter sich. In der zweiten Stufe gilt es, die Wähler von seiner Lauterkeit und Kompetenz zu überzeugen. Das aber scheinen etliche bei der AfD noch nicht begriffen zu haben.






Klaus-Peter Schöppner, war von 1991 bis 2013 Geschäftsführer des Emnid-Instituts für Meinungsforschung. Nach dem Studium der Psychologie, Publizistik und Betriebswirtschaftslehre Abschluß als „Qualifizierter Marktforscher“ unter der Schirmherrschaft Elisabeth Noelle-Neumanns. 1975 Eintritt in das Emnid-Institut. Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen. Ständiger Korrespondent mehrerer Tageszeitungen. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Fachzeitschriften. Immer wieder kommentierte er im Fernsehen und Rundfunk sowie im Spiegel, Focus oder der Wirtschaftswoche. Ab 1995 moderierte er wöchentlich die Sendung „Emnid“ auf n-tv, 2005 wechselte er zum Nachrichtensender N24. Schöppner war Berater des Bundespräsidialamtes, verschiedener Landesregierungen, Parteien und großer Unternehmen. Heute leitet er das Meinungsforschungs- und Beratungsinstitut Mentefactum in Bielefeld. Geboren wurde Klaus-Peter Schöppner 1949 in Münster. 

Foto: AfD im Aufwind (Großdemonstration 2015 in Berlin): „Um beim klassischen bürgerlichen Wähler Erfolg zu haben, muß man Abstand zur Ausländerfeindlichkeit halten“

 

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