© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Austernjäger mit Tigerherz
Geniestreiche: Vor 400 Jahren schloß der englische Dramatiker William Shakespeare für immer die Augen
Günter Zehm

Er war ein Strandräuber. „The world is my oyster“ war nach verläßlichem Zeugnis Shakespeares Lieblingsspruch, „die Welt ist meine Auster.“ Er wanderte, bildlich gesprochen, unentwegt die Tidengewässer auf der Suche nach Austern ab, brach die Schalen der Tiere ungeheuer geschickt auf, salzte sie, saugte sie gierig aus, will sagen: setzte sie in Sprache, in Vers und Rhythmus um. The world is my oyster.

Nicht überraschend an sich, daß das erste schriftliche Dokument, das wir über den Londoner Theatermann und Lyriker William Shakespeare haben, eine wüste Schmähkritik ist, ein Aufruf an die Herrschenden, diesen Emporkömmling aus der Gilde der Sprachkünstler hinauszuwerfen und ihm den Prozeß zu machen. Ein seinerzeit gar nicht so unbekannter, gut etablierter Hofpoet, Robert Green, war der Ankläger. Dieser Shakespeare, tobte er im Jahre 1592 in einem langen Pamphlet, maße sich an, „zu dichten wie ein angesehener Dichter“, aber er sei nur „eine schmutzige Krähe, die sich mit Pfauenfedern schmückt“. 

Greens Schuß ging natürlich schon damals voll nach hinten los. Nicht Shakespeare, sondern Green versank im Nichts, obwohl der Mann in seinem Pamphlet eine Formulierung untergebracht hatte, die Shakespeare so genau charakterisiert wie kaum je eine zweite. Shakespeare verberge, schrieb der Denunziant, „ein Tigerherz im Schauspielergewand“. Damit war im Grunde bereits alles gesagt; nur vom Verbergen konnte schwerlich die Rede sein.

Ja, der Austernjäger hatte tatsächlich ein Tigerherz, anders hätte er sein gewaltiges Lebenswerk gar nicht vollbringen können. Aber er verbarg es nicht im Schauspielergewand, sondern das Schauspielergewand war die äußere, notwendige Folie des Tigerherzes. Der Panzer der Weltauster war gar nicht anders aufzusprengen als im Gewand des Schauspielers, Sprachmeisters und Poeten. Echte Weltaneignung ist nur möglich in Form präzise erahnter Nachahmung und Verdoppelung mittels Sprache und Gestik, Spiel und theatralischer Anschauung. „Theater“ heißt am Ursprung nichts weiter als „Anschauung“. 

Kein Geringerer hat die untrennbare Allianz von Tigerherz und Schauspielergewand, hartem Sich-etwas-aneignen-Wollen und wahrer Anschauung bei Shakespeare genauer auf den Begriff gebracht als Goethe. In seinem Essay „Shakespeare und kein Ende“ heißt es:  „Nicht leicht hat jemand uns in höherem Grade in das Bewußtsein der Welt versetzt als Shakespeare. Sie wird für uns völlig durchsichtig, wir finden uns auf einmal als Vertraute der Tugend und des Lasters, der Größe, der Kleinheit, des Adels, der Verworfenheit, und dieses alles, ja noch mehr, durch die einfachsten theatralischen Mittel (…) Es scheint, als arbeite er allein für unsre Augen, aber wir sind getäuscht.“

In der Tat: Shakespeare theoretisiert nicht, und er meldet sich überhaupt nie selbst zu Wort, auch in seinen intimen Sonetten nicht. Er überläßt alles den Augen (und Ohren) des Publikums, läßt einzig seine Personen aus ihrer eigenen Charakteristik heraus sprechen oder – wenn es sich gar nicht vermeiden läßt – einen „Narren“, der, zur Klampfe singend, einige Grundweisheiten beim Namen nennt: Man denke an den Narren aus „Was ihr wollt“ und seine nur allzu treffenden Gesänge „Lieber gut gehängt als schlecht verheiratet“ und „Der Regen, er regnet jeglichen Tag“.

Am besten spiegelt sich die reale Gestalt von Shakespeare Tigerherz wohl in der Gestalt des Fürsten Vincentio ab, der eines Tages auf  die Idee kommt, sich unerkannt unters Volk zu mischen, um sein Reich einmal „von unten“ zu betrachten. Er kommt dabei aus dem Staunen nicht heraus, erkennt, daß „die da oben“ beim Regieren viel zuviel bloße Prinzipien reiten, statt dem Leben, so wie es ist, seinen angestammten Lauf zu lassen. 

Vincentio hat, bevor er abtauchte, einen hochmoralischen, gesetzesversessenen Stellvertreter eingesetzt, doch genau dies erweist sich als schwerer Fehler. Der Stellvertreter verheddert sich alsbald in einen Dauerzwist zwischen Gesetzes-anerkenntnis und Liebesgefühlen, wird zum Opfer seiner eigenen Rigorosität und richtet viel Unheil an. Am Ende stehen er und die von ihm Regierten am Abgrund. Vincentio muß schnell wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren, und er muß dann zunächst einmal tapfer die Augen zudrücken und knüppeldick Gnade vor Recht ergehen lassen, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. 

In „Maß für Maß“ stellt sich zum Schluß heraus, daß derjenige, um den sich die ganze Handlung dreht, Claudio, der gegen wichtige Regeln verstoßen hat und deshalb scheinbar hingerichtet worden ist, doch noch lebt und deshalb positiv in die Endabrechnung einbezogen werden kann. Allein dadurch wird das Stück vor dem Tragödienstatus bewahrt, kann mit Ach und Krach als Komödie über die Bühne gehen. Das Leben, so lernen wir, ist weniger ein Entweder-Oder denn ein Sowohl-Als-auch, Tragödie wie Komödie gleichermaßen. Wer das auf Dauer ignoriert, fällt ins Nichts. 

Wer es aber, wie Shakespeare, zum Motto seines Schaffens macht und dafür auch noch ein Tigerherz mitbringt inklusive eines sicheren Sinns für Poesie und Dramaturgie, dem wachsen die großen Taten zu, Geniestreiche sonder Zahl, alle wie für die Ewigkeit gemacht. Es gibt bei Shakespeare keine Tragödie ohne inhärente Komödie, ernsthafte Szenen und komische Rüpelszenen durchdringen sich, tragische Helden wie König Lear oder Othello geben oft äußerst komische Züge preis, während ausgesprochene Witzfiguren oder Unholde, Falstaff, Malvolio oder Caliban, streckenweise von großer Melancholie, gar Tragik umweht sind.

Aber auch Geschichte und Aktualität, Zeit und Ewigkeit geraten bei Shakespeare immer wieder durcheinander,  ohne daß das seinen Stücken den geringsten Schaden bereitete, im Gegenteil. Ob „Julius Caesar“ oder „Richard III.“ – in keinem Fall wird die historische Authentizität durch den Shakespearschen Text verletzt. Statt dessen macht Shakespeare stets die anthropologische Grundbefindlichkeit sichtbar, in der alle Akteure stehen und die sie antreibt und in dramatische Verwicklungen bringt.

Genau das rückt seine Stücke in die privilegierte Lage, fast jeder Art von „modernem Regietheater“ zu widerstehen und das auf der Bühne erscheinen zu lassen, was vom Autor wirklich gemeint war. Shakespeare ist immer „schon da“.Wie ungeheuer aktuell ist doch beispielsweise sein „Hamlet“, ohne daß man ihn auch nur im geringsten „umdichten“  müßte! In keinem anderen Stück ist so viel Stasi oder FBI wie im „Hamlet“.

Nirgends sonst wird mehr gespitzelt und „operativ zersetzt“ als im „Hamlet“, nirgendwo werden mehr „Informelle Mitarbeiter (IMs)“ angeworben. Rosenkranz und Güldenstern, ehemalige Schulkameraden Hamlets und nun dafür bezahlt, ihn zu denunzieren und schließlich ans Messer zu liefern, sind geradezu der Inbegriff von Stasi-Spitzeln. Genau so haben die Genossen von der unsichtbaren Front gearbeitet.

Aber auch die unglückselige Ophelia wird von ihrem Vater, dem Stasi-Minister Polonius, ganz ungeniert eingesetzt, um den von ihr geliebten Hamlet auszuhorchen und ein Psychogramm von ihm zu erstellen. Und gegen ihren Bruder, Laertes, hat Polonius ebenfalls eine Großspitzelei eingeleitet; IM Reinhold soll Laertes’ persönliches Umfeld an der Pariser Universität zersetzen, ihn absichtlich in einen schlechten Ruf bringen, denn „ein Lügenköder fängt den Wahrheitskarpfen“. Schwester Ophelia wird bekanntlich wahnsinnig angesichts so vieler Lügenköder.

Die Königin, immerhin Hamlets Mutter, betätigt sich nicht weniger fleißig als IM, liefert Spitzelberichte über ihren Sohn beim König ab. Der arme junge Prinz ist wie vor den Kopf geschlagen. Soeben noch hat man ihn auf der Universität zu Wittenberg mit hochmögenden Theorien vollgestopft – und nun dies!

Er kommt nach Hause, und der Geist seines Vaters teilt ihm in dürren Worten mit, daß er von seinem Bruder, Hamlets Onkel, hinterrücks ermordet worden sei und daß seine Frau, Hamlets Mutter, ein blutschänderisches Verhältnis mit diesem Bruder, dem jetzigen König, unterhalten habe. Hamlet faßt es nicht. Schnell merkt er, daß er von Spitzeln umgeben ist, daß er niemandem trauen darf, der Geliebten nicht und den Schulfreunden nicht und der Mutter am allerwenigsten. Allmählich lernt er den in Tyranneien notwendigen double speak, das Reden mit doppeltem Boden.

Einfach zu lügen wie die anderen, dazu ist er zu stolz und zu anspruchsvoll. So spricht er nur noch in Andeutungen und Gleichnissen, und seine Rede ist zusätzlich noch durchsetzt mit drolligen university wits, mit Studentenjargon und Studentenscherzen und nicht zuletzt mit Ausdrücken sexueller Unsicherheit. All das wirkt ungeheuer sympathisch, Hamlet ist eine Identifikationsfigur ohnegleichen. Man kann sehr gut verstehen, daß Deutschlands intellektuelle Jugend Ende des 18. Jahrhunderts mit fliegenden Fahnen von Goethes Werther zu Hamlet überging.

 Fortsetzung auf Seite 15





William Shakespeare 

Wer war William Shakespeare? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, gibt es doch für seine Biographie kaum historische Zeugnisse. Schon das Geburtsdatum ist nicht überliefert; getauft wurde er am 26. April 1564. Viele Jahre des Dichters verlieren sich komplett im Dunkel der Geschichte. Ab 1599 war er Mitbesitzer und Hauptautor des Londoner Globe Theaters, in dem seine Stücke mit großem Zuspruch aufgeführt wurden. Shakespeare starb am 23. Mai 1616. Beigesetzt ist er in seiner Heimatstadt Stratford-upon-Avon.