© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Fortsetzung von Seite 13
Günter Zehm

Ohnehin war William Shakespeare schon damals ein ausgesprochener Liebling der Deutschen. Und er ist es seitdem geblieben. Immer neue Übersetzungen erschienen und wurden als „definitiv“ und als „endlich dem wahren Shakespeare gemäß“ angepriesen – und beileibe nicht nur die Schlegel-Tieck-Version aus der Romantik war gut, fast alle übrigen waren ebenfalls gut und taten dem Original keinen Tort an, enthüllten immer nur neue Dimensionen des monumentalen Originals, ergänzten also einander, statt sich gegenseitig zu widerlegen.

Insofern lief die Anfang des 20. Jahrhunderts von der George-Schule so leidenschaftlich betriebene „Reinigung“ der deutschen Shakespeare-Übersetzungen von Anfang an ins Leere. Eventuell auftretende Nichtskönner oder Fälscher wurden ohne viel Federlesens sofort aus den Reihen der echten Shakespeare-Liebhaber entfernt. Aber diese ihrerseits mußten einsehen, daß die Originalversion im buchstäblichen Sinne unausschöpfbar war, viele Versionen und Diktionen zuließ.

Sonett-Übersetzung mit Treue zur Intention

Das gilt nicht zuletzt für das lyrische Werk Shakespeares, seine 154 Sonette, erstmals als Gedichtband erschienen 1609. George legte stolz eine „authentische“ Nachdichtung vor, doch deren Zweispältigkeit trat schnell hervor und erntete Widerspruch, so vor allem seine Version des Sonetts Nr. 66, des erklärten Lieblingssonetts der Deutschen. William Shakesperare hatte gedichtet:

„Tir’d with all these, for restful death I cry.-/ As, to behold desert a beggar born,/ And needy nothing trimm’d in jollity/ And purest faith unhappily forsworn/ And gilded honour shamefully misplaced/ And maiden virtue rudely strumpeted/ And right perfection wrongfully disgraced/ And strengh by limping sway disabled,/ And art made tongue-tied by authority/ And folly (doctor-like) controlling skill,/ And simple truth miscall’d simplicity/ And captive Good attending Captain Ill:/ Tir’d with all these, from these would I be gone,/ Save that, to die, I leave my love alone.“

Die Nachdichtung von Stefan George stammt aus dem Jahr 1909 und geht folgendermaßen:

„Dies alles müd, ruf ich nach todes rast/ Seh ich Verdienst als bettelmann geborn/ Und dürftiges Nichts in herrlichkeit gefaßt/ Und reinsten Glauben unheilvoll verschworn/ Und goldne Ehre schändlich mißverwandt/ Und jungfräuliche Tugend roh geschwächt/ Und das Vollkommne ungerecht verbannt/ Und Kraft durch lahme lenkung abgeflächt/ Und Kunst schwer-züngig vor der obrigkeit/ Und Geist vorm doctor Narrheit ohne recht/ Und Einfachheit missnannt Einfältigkeit/ Und sklave Gut in dienst beim herren Schlecht./ Dies alles müd, möcht ich gegangen sein,/ Liess ich nicht, sterbend, meine Lieb allein.“

Die Kritiker monierten, George habe keine Nachdichtung, sondern eine „Umdichtung“ angefertigt, jedoch, jeder Linearvergleich bringt an den Tag, daß er dem Original in ganz ungewöhnlicher Treue folgt. Jede Zeile gibt genau das wieder, was Shakespeare selbst niedergeschrieben und zu Versen geordnet hat. George hat tatsächlich und mit voller Absicht die „ewige“ deutsche Fassung des Sonetts Nr. 66 geliefert – aber just dadurch die wahre Gestalt des Gedichts verfehlt.

Denn Shakespeares Text an sich ist eben nicht „ewig“, ist nicht im geringsten feierlich à la George. In ihm atmet vielmehr ungeheure Zeitgenossenschaft, eine geradezu investigative Schmutzaufwühlerei wie bei uns im heutigen Journalismus, freilich ohne daß dabei die wahrhaft existentielle Bitterkeit des Gedichts, sein „Ewigkeitswert“, verschwindet. So etwas kann natürlich nur in Originalsprache gelingen, allenfalls noch in einer Übersetzung, deren Autor mit dem Autor des Originals in genau derselben Zeit und unter genau denselben sozialen und geistigen Umständen lebt.

Spätere Übersetzungen (und es wimmelt hierzulande davon) müssen, um den echten Odeur des Originals überzubringen, immer wieder aktualisieren, wodurch eine eigentümliche Spannung entsteht zwischen Treue zum Wortlaut und Treue zur Intention. Die wohl neueste deutsche Übersetzung des Sonetts Nr. 66 stammt aus dem Jahr 2015 von dem Autor Michael Klonovsky:

„O Gott, wie satt hab ich dies Leben hier,/ Wo ich den Geist um Klicke betteln seh’,/ Und grüne Fatzkes haben viel Pläsier,/ Und jede Art von Treue ist passé./ Und preisbehangen prangt Schamlosigkeit,/ Und höchstes Glück der Frau ist der Beruf,/ Und wo man hinschaut, macht sich Tinnef breit,/ Und Männlichkeit ist schlecht, wie Gott sie schuf./ Und Zeitgeisthurerei ist alle Kunst,/ Und Gouvernanten prüfen jedes Wort,/ Und simple Wahrheit stirbt im Talkshowdunst/ Und Nutzmensch schafft dem Lumpen den Komfort./ Dies alles müd, schmiss ich gern alles hin,/ Doch hingst du dann in meinen Schulden drin.“

Empfindliche Linguisten mögen hier mancherlei bemäkeln, doch auch sie werden einräumen müssen: Der Geist des Mannes aus Stratford-upon-Avon ist in dieser Übersetzung voll lebendig, das Tigerherz ist darin, die Sehnsucht, Austern aufzubrechen, sie poetisch und theatralisch einzusalzen und uns so zu wundersamen Augenblicken wahrer Anschauung zu verhelfen.