© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Ein anderer Blick auf die „Flüchtlingskrise“
Putsch der Zivilgesellschaft
Ludwig Witzani

Es gehört zu den Märchen der Revolutionstheorie, daß Revolutionen Volkserhebungen darstellen, die sich plötzlich und unerwartet gegen einen intakten Staatsapparat erheben und ihn hinwegfegen. Keine einzige Revolution der Weltgeschichte ist jemals so verlaufen. In Wahrheit treffen Revolutionen meist schon auf Regierungen, die entweder geschwächt sind oder in denen bereits die gleichen Kräfte sitzen, die auf der Straße den Umsturz vorantreiben. Als die Französische Revolution mit dem Sturm auf die Bastille begann, hatte sich schon die Nationalversammlung in Paris gebildet, deren linker Flügel zu den Taktgebern der Straßenaufstände gehörte. Bei der russischen Revolution von 1917 oder deutschen Revolution von 1918 verhielt es sich ähnlich. Revolutionen sind fast immer Veranstaltungen, die von „oben“ (oder wenigstens einer Fraktion der politischen Führung) und „unten“ gleichzeitig betrieben werden. Das verleiht ihnen ihre unwiderstehliche Durchschlagskraft.

Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, war die Weimarer Republik bereits schwer angeschlagen. Trotzdem stellte sie noch immer ein pluralistisches System mit unabhängigen Parteien, Interessenverbänden, mit eigenständigen Massenmedien und politisch anders eingefärbten Ländern dar, von dem sich niemand hätte vorstellen können, daß es so schnell überwältigt werden könnte. Aber dann ging es Schlag auf Schlag. Innerhalb weniger Wochen gelang es den Nationalsozialisten, Staat und Gesellschaft gleichzuschalten.

Funktionsgeheimnis dieser Machtergreifung war das reibungslose Ineinandergreifen von staatlichem Handeln (Notverordnungen) und dem sich scheinbar auf den Straßen und in der Öffentlichkeit spontan offenbarenden „Volkswillen“ (SA-Aufmärsche). Gegen diese Zangenbewegung, die in Wahrheit eine gekonnte „Politikinszenierung“ (Karl Dietrich Bracher) darstellte, standen die demokratischen Kräfte auf verlorenem Posten. Als das „Volk“ im Rahmen einer organisierten Politposse im Anschluß an die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 Rathäuser und Landesparlamente stürmte, griff die Regierung von oben ein, um „Recht und Gesetz“ wiederherzustellen. Die Entmachtung der demokratischen Kräfte und Institutionen war die Folge.

Ohne die deutsche Regierung des Jahres 2016 mit Jakobinern, Nationalsozialisten oder Bolschewiken gleichsetzen zu wollen, ist es doch interessant, die Umwälzungen, die ab dem Herbst über Deutschland hereingebrochen sind, aus dieser Perspektive zu betrachten. Handelte es sich bei den Vorgängen im Spätsommer und Herbst 2015 möglicherweise um einen revolutionsähnlichen Vorgang, um einen Putsch der Zivilgesellschaft, der mit dem rechtswidrigen Handeln der Bundesregierung begann und dann durch eine breite „Refugees welcome“-Bewegung plebiszitär gerechtfertigt werden sollte?

Die ohne öffentliche Diskussion ausgesprochene Einladung an Hunderttausende Migranten von seiten der Bundeskanzlerin, die zeitweise völlige Entblößung der deutschen Grenzen, der Verzicht auf Registrierung von Hunderttausenden Zuwanderern, die Mißachtung von Artikel 16a Grundgesetz und europarechtlich bindender Abkommen waren in der Geschichte der modernen Staatlichkeit einmalige Vorgänge. Unter normalen Umständen hätte ein Sturm der Entrüstung ausbrechen müssen, der die Regierung hinweggefegt hätte.

Kaum begannen die Zuwanderer in nicht für möglich gehaltener Massierung die deutschen Grenzen zu überschreiten, setzten zwei flankierende nichtstaatliche Bewegungen ein, die das Handeln der Kanzlerin scheinbar nachträglich rechtfertigten.

Aber es kam anders. Kaum begannen die überwiegend männlichen moslemischen Zuwanderer in nicht für möglich gehaltener Massierung die deutschen Grenzen zu überschreiten, setzten zwei flankierende nichtstaatliche Bewegungen ein, die das Handeln der Bundeskanzlerin scheinbar nachträglich rechtfertigten. Zum Erstaunen der Welt bildeten sich überall in Deutschland „Refugees welcome“-Gruppen, deren Mitglieder die auf den Bahnhöfen ankommenden Zuwanderer mit Beifall und Geschenken begrüßten. Einen Moment lang schien die überwältigende öffentliche Präsenz dieser Bewegung eine echte Volksstimmung auszudrücken, in der sich eine phantastische Einheit von staatlichem Handeln und gesellschaftlichem Wollen manifestierte. Manche sprachen von „Helldeutschland“. Andere fühlten sich an Nordkorea erinnert.

Diese erstaunliche gesamtgesellschaftliche Selbstberauschung war allerdings nur möglich mit Hilfe der Massenmedien, die ihr Monopol der Wirklichkeitszubereitung in dieser kritischen Situation in einer bis dahin unbekannten Einseitigkeit einsetzten. Obwohl drei Viertel der Migranten junge, kräftige Männer im wehrfähigen Alter waren, bekamen die Fernsehzuschauer in diesen Tagen vorwiegend kleine Kinder zu sehen, die an der Seite ihrer Mütter gen Norden wanderten. Rund um die Uhr sendeten die staatsfinanzierten Medien schockierende Bilder von Menschen, die sich unter Lebensgefahr auf eine zweitausend Kilometer lange Reise machten – nach Deutschland, das sich unter dem Glockengeläut der christlichen Kirchen und als Kompensation für seine geschichtliche Schuld vor den Augen der Welt in einen großen Welterlösungsstaat verwandelte.

Rückblickend stellt sich allerdings die Frage: Wer waren die gesellschaftlichen Akteure, die Bahnhofsklatscher und freiwilligen Helfer, die als Volksdarsteller im „Honeymoon of help“ (EKD-Vorsitzender Heinrich Bedford-Strohm) so selbstlos und spontan agierten? Die Mehrheit der „Refugees welcome“-Aktivisten entstammte der sogenannten „Zivilgesellschaft“, das heißt dem stabil etablierten rot-grünen Netzwerk von Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden bis hin zur Grünen Jugend und den Jusos als Verbindungsscharnieren zu den gewalttätigen Straßenkampfeinheiten der Antifa. Ihnen gelang es eine Zeitlang, in ihren verschiedenen Erscheinungsformen das „Volk“ zu spielen, wobei ihre Mimikry von den Medien nach Kräften unterstützt wurde.

Auch wenn nach dem bisherigen Stand der Kenntnisse unklar ist, wie weit die bewußte Synchronisierung zwischen Regierungsakteuren, gesellschaftlichen Helfergruppen und Medienverantwortlichen reichte, sind die umsturzartigen Abläufe ab Spätsommer 2015 nur zu verstehen, wenn man alle Aktionsebenen gemeinsam betrachtet und sich klarmacht, daß sie einen gemeinsamen Zielhorizont besaßen: den Umsturz der bestehenden Verhältnisse und der sie schützenden gesetzlichen Schranken.

Bekanntlich ist dieser Umsturzversuch der Zivilgesellschaft mittlerweile ins Stocken geraten. Der geradezu außergeschichtliche Freudentaumel ist einer häßlichen Wirklichkeit gewichen, die zwar vom ersten Tag an vorhanden war, die sich aber nach den Silvesterexzessen von Köln und anderen deutschen Städten sowie den Terroranschlägen von Paris und Brüssel nicht mehr verleugnen läßt. Außerdem erweist sich der Widerstand von Teilen der Bevölkerung als hartnäckiger als vorhergesehen. Die in dieser Breite unerwarteten Erfolge der AfD, der Zulauf der Pegida-Demonstrationen, immer neue Meldungen über die Schattenseiten der Massenzuwanderung und der Abfall einer Reihe gewichtiger Stimmen aus dem etablierten Spektrum (Safranski, Sloterdijk, Aust und andere) haben eine oppositionelle Bewegung begründet, die die Zivilgesellschaft herausfordert.

Revolutionstheoretisch ist das alles andere als erstaunlich. Auch die Französische Revolution geriet 1791/92 nach der Flucht des König in eine Krise, auch die Bolschewiki erlitten nach ihrer Machtergreifung bei der Wahl zur Nationalversammlung eine schwere Niederlage, sogar Hitler kam Mitte 1934 zwischen konservativem Widerstand und radikaler SA in ernste Bedrängnis. Wie wurden diese Stockungen des revolutionären Prozesses in den konkreten historischen Entscheidungssituationen beseitigt? Antwort: durch eine Radikalisierung der Revolution und den Einsatz nackter Gewalt.

Nicht immer setzen sich Umsturzversuche oder Revolutionen auch durch. Wenn sie ins Stocken geraten, werden sie manchmal Opfer einer kraftvollen Gegenbewegung, die sie hinter ihre Ausgangsbedingungen zurückwirft.

Die Septembermorde von 1792, das Zusammenschießen der Demonstranten vor dem Taurischen Palast im Januar 1918 und die Morde im Zusammenhang mit dem sogenannten „Röhm-Putsch“ verhalfen den hier angesprochenen drei Revolutionen endgültig zum Durchbruch – und enthüllten zugleich ihr wahres, ihr blutiges Gesicht. Was bedeutet das für das gegenwärtige Stocken des politisch-gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses? Ist mit einer Radikalisierung der politischen und zivilgesellschaftlichen Aktionen und dem Einsatz offener Gewalt gegen das eigene Volk zu rechnen?

Die Antwort fällt zwiespältig aus. Bei aller Kritik an den Gesetzesübertretungen der deutschen Regierung ist mit einem flächendeckenden staatlichen Gewalteinsatz gegen die Bevölkerung nicht zu rechnen. Selbst für die hyperbiegsame Union und weite Teile der Polizei wäre das der Punkt, an dem sie aus dem Geschehen aussteigen würden. Für die staatsfinanzierten „Kampf gegen Rechts“-Gruppen und die Antifa gilt dies jedoch nicht. Hier existiert schon seit langem eine weitgehend geduldete Praxis des Straßenterrors gegen Andersdenkende, und wenn man den Verlautbarungen dieser Gruppen glauben darf, dann ist nach den Erfolgen der AfD sogar mit einer Eskalation der Gewaltanwendung zur rechnen.

Auch ein Blick auf die Medien zeigt ein uneinheitliches Bild. Während sich die privat finanzierten Medien mit Rücksicht auf ihre Leserschaft langsam zu besinnen scheinen, hat das Trommelfeuer der staatsfinanzierten Medien gegen die Zuwanderungsgegner an Intensität möglicherweise noch zugenommen. ARD und ZDF betreiben, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Kampagne der gesellschaftlichen Stigmatisierung bürgerlicher AfD-Politiker, für die es nach 1945 kaum ein Beispiel gibt. Vorläufig letzter Kulminationspunkt dieser öffentlichen Repression ist die scheinbar freiwillige Gleichschaltung von staatlich verfaßten Berufsverbänden und Interessengruppen zur Ächtung politischer Gegner. Bierbrauer, Schornsteinfeger, Schauspieler, Bischöfe, Buchhändler oder wer immer seine Zugehörigkeit zum zivilgesellschaftlichen Mainstream darstellen (und damit „Zivilcourage“ beweisen) will, überschlagen sich darin, mit Hilfe der stupiden „Neonazi-Keule“ Andersdenkende auszuschließen und gar nicht erst zum Dialog zuzulassen.

Warum diese Rigorosität des medialen Mobbings gegen Positionen, die sich in keiner Weise gegen Verfassungsordnung und Grundgesetz richten? Auch hier gibt die Revolutionsforschung ansatzweise eine Antwort. Denn nicht immer setzen sich Umsturzversuche oder Revolutionen auch durch. Wenn sie ins Stocken geraten, werden sie manchmal Opfer einer kraftvollen Gegenbewegung, die sie hinter ihre Ausgangsbedingungen zurückwirft.

Möglicherweise ahnen die Akteure in den staatsfinanzierten Medien, daß sie durch die Einseitigkeit ihrer Kampagnen einen Großteil des Vertrauens verspielt haben, von dem sie bislang zehrten. Für viele der „Merkelklatscher“ auf dem letzten CDU-Parteitag mag die Zukunft ähnliche Gefahren bereithalten. Von den Sozialdemokraten und ihrer von ihrer normalen Wählerklientel vollkommen abgehobenen Funktionärskaste ganz zu schweigen.

Solange in Deutschland aber noch frei gewählt werden kann (und Wahlfälschungsversuche wie in Bremen oder Sachsen-Anhalt die Ausnahme bleiben), sind ihren Manipulationsversuchen Grenzen gesetzt. Am Ende könnte sich der Umsturzversuch der Zivilgesellschaft deswegen sogar als der epochale Fehlschlag erweisen, der die öffentliche Hegemonie des etablierten rot-grünen Lagers von Angela Merkel bis Claudia Roth ins Wanken bringt.






Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Lehrer im höheren Schuldienst und Reisejournalist. Er verfaßte Reiseberichte für große Tageszeitungen und Journale wie die FAZ, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Merian und andere und veröffentlicht Reisebücher im epubli-Verlag, Berlin (über Tibet, Indien, Süd­amerika, Osteuropa, Indochina). Auf dem Forum schrieb er zuletzt eine Dystopie über Europa („Was auf uns zukommt“, JF 29/15).

Foto: Münchner jubeln am 5. September 2015 eintreffenden Migranten am Hauptbahnhof zu und heißen sie willkommen: Vermeintliche Einheit von Regierung und Volk durch die Wirklichkeitszubereitung der Massenmedien