© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Ein schwarz-weiß-roter Grüner
Vor 150 Jahren starb der Kulturhistoriker Ferdinand Gregorovius: Zur Erinnerung an einen ostpreußischen Wahlrömer
Ulrich Nitsch

Der Gründervater der modernen deutschen Geschichtswissenschaft, Leopold von Ranke, nannte seinen nicht zur Riege der wohlbestallten Ordinarien zählenden Kollegen Ferdinand Gregorovius herablassend einen „Historiker für Touristen“. Eine kräftige Portion Neid mochte da mitschwingen, denn Gregorovius’ Reiseskizzen aus „Korsika“ (1854) und vor allem sein zum Klassiker avanciertes work in progress, die „Wanderjahre in Italien“ (1856 bis 1877), die das Bild vom Sehnsuchtsland der Deutschen so formten wie sonst nur Goethes „Italienische Reise“, erreichten ein bildungsbürgerliches Publikum weit jenseits des akademischen Milieus. Und genau dieses Leserpublikum, spottete der gegen Ranke stichelnde Privatgelehrte zurück, zeigte den ledernen Erzeugnissen der ans Katheder gefesselten „Galeerensklaven“ gewöhnlich die kalte Schulter. 

Zeitlebens auf Freiheit und Unabhängigkeit bedacht

Als dem Renommee des Verfassers noch abträglicher erwies sich allerdings – wenigstens durch professorale Brillen betrachtet – der Umstand, daß der Inhalt beider Bücher zunächst quasi als Fortsetzungsgeschichte im führenden Blatt des deutschen Kulturraums, in der Goethes Verleger Cotta gehörenden Augsburger Allgemeinen Zeitung, erschien und daher mit dem wenig schmeichelhaften Odium der „Zeitungsschreiberei“ behaftet war. 

Aber diesen Weg in den Journalismus hatte der 1821 im ostpreußischen Neidenburg geborene Sohn eines Justizrats nicht freiwillig beschritten. Tauchte doch schon der Königsberger Student, tonangebender Senior im Corps Masovia, in die liberal-demokratische Ideenwelt des Vormärz ein. Konsequent verließ der atheistisch disponierte Protestant daher die angepeilte Laufbahn, womöglich die eines Landgeistlichen in Masuren, um sich unter dem Einfluß des auf Kants Lehrstuhl sitzenden Hegelianers Karl Rosenkranz als Literaturhistoriker zu habilitieren. 

Mit der zum 100. Geburtstag des Olympiers vorgelegten Arbeit über „Göthe’s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen entwickelt“, die die Entdeckung des amtlichen, des politischen, des antikapitalistischen Geheimrats Goethe in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorwegnahm, hätte es auch klappen können. Wenn im März 1848 nicht die Revolution ausgebrochen und der mit satirischen Attacken zuvor einschlägig bekannt gewordene Autor nicht, wie er später selbstkritisch notiert, mit Haut und Haaren dem „Freiheitsschwindel“ verfallen wäre. Als bisweilen fast alleiniger Beiträger war Gregorovius die Stütze der radikaldemokratischen Neuen Königsberger Zeitung. Als sie auf Druck der in Preußen wieder etablierten Reaktion im Juni 1850 ihr Erscheinen einstellen mußte, durfte ihr Macher nicht damit rechnen, dieses Engagement würde ihn für eine Rückkehr an die Universität empfehlen.

So blieb dem zeitlebens auf Freiheit und Unabhängigkeit bedachten Intellektuellen nur die riskante Entscheidung, fortan vom Ertrag seiner Feder zu leben. Den geistigen Pfad nach Italien ebnete ihm der Königsberger Althistoriker Wilhelm Drumann, ein an Gibbon geschulter Spezialist für Untergänge, für „staatliche Zersetzungsprozesse“ (Hans Prutz), dessen letzte Veröffentlichung dem antiken Kommunismus galt. 

Noch am Pregel lieferte Gregorovius seine erste, reichlich mißglückte Fingerübung als Historiker ab, die „Geschichte des römischen Kaisers Hadrian und seiner Zeit“ (1851). Im Herbst 1852 in Rom angekommen, rasch als journalistischer Reiseschriftsteller reüssierend, kristallisierte sich langsam der Plan zu seinem Lebenswerk heraus, zu einer Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, die er bis 1874 in acht Bänden vorlegte. Nicht also das antike Rom oder die während der Renaissance vitalisierte römische Antike, die Winckelmann und Goethe, Burckhardt und Mommsen faszinierte, sondern die scheinbar halkyonischen 1.000 Jahre nach dem Ende des römischen Imperiums bis zum Beginn der Frühen Neuzeit, wollte Gregorovius beleuchten. Durchaus jedoch in politischer Absicht, da er in Roms Vergangenheit einerseits die parallelen Abläufe der deutschen wie italienischen Einigung nach 1860 spiegelte, andererseits das Papsttum als Anachronismus darstellte, was ihm prompt die Indizierung nicht allein dieses opus magnum durch das Heilige Offizium eintrug.

Aversion gegen die Zerstörung der Natur 

Enthusiastisch begrüßte der 1848er-Veteran Gregorovius dagegen 1870 Bismarcks Reichseinigung von oben, und noch kurz vor seinem Tod am 1. Mai 1891 gab er sich überzeugt, daß der „germanische“ Kern des deutschen „Nationalreichs“ der, im Vergleich mit dem alle Völkerindividualitäten aufsaugenden „Weltstaat“, zuverlässigere Garant für ein anzustrebendes soziales Reich der „sittlichen Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit“ sei. Verwoben mit diesem schwarz-weiß-roten Nationalismus war bei ihm im Alter zunehmende Aversion gegen die Natur und Kultur zerstörenden Wirkungen der technischen und industriellen Moderne. „Kein Grüner von heute“, so urteilte der Italien-Historiker Jens Petersen 1991, könne nachdrücklicher für die Rechte der Natur streiten, „gegen die mörderischen Kapitalisten“, als Ferdinand Gregorovius.