© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Eine Stunde mehr Kohle für die Frontlokomotiven
Kurzfristiges Intermezzo während des Ersten Weltkriegs: Vor hundert Jahren wurde in Deutschland erstmals die Sommerzeit eingeführt
Wolfgang Kaufmann

Am 26. April 1784 veröffentlichte Benjamin Franklin, der zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung der USA gehörte und zudem als genialer Erfinder galt, einen Artikel im Journal de Paris mit dem Titel „An Economical Project for Diminishing the Cost of Light“, in dem er vorrechnete, daß die Bewohner der französischen Hauptstadt sagenhafte 30.000 Tonnen Kerzenwachs pro Jahr sparen könnten, wenn sie das Tageslicht effektiver nutzen, also zeitiger zu Bett gehen und früher aufstehen würden. 

Hieran anknüpfend regte der neuseeländische Entomologe und Astronom George Vernon Hudson 1895 an, die Uhren im Sommer um zwei Stunden vorzustellen. Doch geriet auch diese Initiative schnell wieder in Vergessenheit. Dahingegen löste die Abhandlung „The Waste of Daylight“ des Briten William Willett, die 1907 erschien, äußerst lebhafte öffentliche Diskussionen aus, woraufhin sich sogar das Londoner Unterhaus mit der Frage befaßte, ob es sinnvoll sei, eine „Daylight Saving Time“ einzuführen – wobei die Antwort am Ende „Nein“ lautete, obwohl Willett unter anderem die Unterstützung des einflußreichen Abgeordneten Winston Churchill genoß.

Ausbleiben der Importe von Lampen-Petroleum

In Deutschland wiederum schlug der preußische Geheimrat Henry Theodore von Böttinger, welcher von Wilhelm II. „aus allerhöchstem Vertrauen“ ins Berliner Herrenhaus berufen worden war, 1912 vor, eine spezielle Sommerzeit einzuführen, von der er sich insbesondere Vorteile für die Landwirtschaft versprach. Allerdings hätte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg als grundsätzlicher Befürworter des Vorhabens den Reichstag um die Verabschiedung entsprechender legislativer Regelungen ersuchen müssen, wovor er jedoch zurückscheute. 

Kurz danach eröffnete dann aber der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ganz neue administrative Möglichkeiten: Dank des Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrates zu wirtschaftlichen Maßnahmen vom 4. August 1914 verfügten die Bevollmächtigten der regierenden Fürsten der Gliedstaaten des deutschen Kaiserreichs jetzt über die Kompetenz, die schon damals nur wenig populäre Sommerzeit am Parlament vorbei zu oktroyieren. 

Trotzdem dauerte es noch bis zum 6. April 1916, ehe das Reichsgesetzblatt verkündete: „Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags elf Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung. Der 30. September 1916 endet eine Stunde nach Mitternacht im Sinne dieser Verordnung.“ Ein wesentlicher Grund für die nunmehr also verbindlich festgelegte Zeitumstellung war das Ausbleiben der Importe von Lampen-Petroleum und Paraffin für die Kerzenfertigung infolge der Seeblockade der Royal Navy. Darüber hinaus herrschte aber auch ein spürbarer Mangel an Stadtgas, weswegen die Beleuchtung der Straßen und Gebäude reduziert werden mußte. Stadtgas wurde oft aus Steinkohle gewonnen, die man ebenso dringend zur Erzeugung von Elektrizität für die Rüstungsindustrie sowie das Heer der unzähligen Transportlokomotiven benötigte. Dieser Schritt schien so überzeugend, daß andere europäische Länder, darunter auch die Kriegsgegner Großbritannien und Frankreich, ebenfalls 1916 die Sommerzeit einführten.

Die Umstellung auf die Sommerzeit führte am 1. Mai 1916 zu teilweise chaotischen Zuständen, obwohl die Menschen im Vorfeld durch zahlreiche Zeitungsartikel und Plakate sowie „Künstlerische Erinnerungs-Postkarten“ informiert worden waren.  So erschienen viele Arbeiter zu spät zur Frühschicht, und auch der Berufsverkehr verlief recht ungeordnet. Andererseits traten die erhofften Einsparungseffekte tatsächlich ein – wenngleich nicht in Höhe der optimistisch veranschlagten 900 Millionen Mark. Außerdem erlitten die Stadtwerke durch den geringeren Gasverbrauch erhebliche Einnahmeverluste, die Steuererhöhungen nach sich zogen, was die Sommerzeit noch zusätzlich in Verruf brachte. Trotzdem übernahmen andere europäische Länder wie Großbritannien, Irland, Frankreich, Österreich-Ungarn und Rumänien die deutsche Praxis.

Im Kaiserreich fanden dann auch im Frühjahr und Herbst 1917 und 1918 Zeitumstellungen statt (nunmehr allerdings, wie heute üblich, zwischen zwei und drei Uhr nachts) – bevor die Weimarer Nationalversammlung 1919 beschloß, die Sommerzeit wieder komplett abzuschaffen.