© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Die schweigende Autokratin
Martin Voigt

Angela Merkel läßt im politischen Berlin niemanden kalt. Und vielen ist sie auch nach mehr als zehn Jahren an der Spitze der Bundesregierung immer noch ein Rätsel. 

In der vergangenen Woche versuchte eine der besten Kennerinen der Kanzlerin, die Publizistin Gertrud Höhler, einige S-Bahnstationen vom Berliner Regierungsviertel entfernt, eine Annäherung. Zentral war in der Bibliothek des Konservatismus dabei die Frage, wie die „Königin der kommentarlosen Alternativen“  die Parteienlandschaft pulverisieren konnte. Irritiert, orientierungslos und politischer Glaubensgrundsätze beraubt sei nicht nur das Volk, sondern auch der politische Gegner, verdeutlichte Höhler. Die Sozialdemokratisierung und Entnationalisierung der Politik während ihrer Kanzlerschaft hätten aus blutleeren Etiketten eine Einheitspartei geformt. 

Aber treibt Merkel nur müde im Alltagsfatalismus vor sich hin – „es kommt ja ohnehin, wie es kommt“ – oder treibt sie etwas an? Die Utopie der Vereinigten Staaten von Europa? Die Illusion einer Währung, die Länder verbindet? Der Weg der fanatischen Entgrenzung sei gepflastert mit Rechtsbrüchen und „die haben wir als Souverän auch mit zu verantworten“, sagte Höhler. „Wir haben die Ehrfurcht vor den Kulturen und der leichten Lebensart unserer Lieblingsurlaubsländer vermissen lassen, als wir als Souverän bei der Rettungsschirmpolitik mitgegangen sind.“ Die Jugend der Südländer blicke bereits auf zehn verlorene Jahre zurück. Tief verwundet seien die Menschen und damit auch die Demokratien der Euroländer. Unberechenbar sei die Führung der Chefin auch im eigenen Land. Der „fingierte Notstand“ in der Energieversorgung sei eine „Operation am offenen Herzen“, sagte Höhler. Man frage sich staunend, was als nächstes komme, und siehe da, „wir bekommen Elektroautos“.

Mit Blick auf die Asylkrise mahnte Höhler: Offene Gesellschaften brauchten keine offenen Grenzen, sondern ein territorial verortetes Selbstbewußtsein. „Wir können nicht mit allen solidarisch sein.“ Die politische Elite sei nun erstaunt, daß die Wähler nicht mehr mitgingen. Die Wähler stünden nur noch ungläubig da angesichts des Schauspiels, das seit vergangenem Sommer die Welt in Atem halte. „Und auch die hier ankommenden Flüchtlinge und Glücksritter sind enttäuscht, nicht das versprochene Paradies vorzufinden.“ Dennoch genieße Deutschland inzwischen das Image einer humanitären Supermacht.

Da ging ein Raunen durch den Saal. Wirklich? Genießt da Deutschland, oder genießt bloß Merkel? Und hat Deutschland dieses Image wirklich, oder ist es nicht doch eher ein Konstrukt der Presse? Da war sie wieder, die Frage, die eine ganze Nation beschäftigt: Beobachten wir politische Fehlleistungen in Serie oder transatlantische Absicht? Will Merkel international fühlende Bürger einer neuen Weltregierung oder hat sie komplett die Kontrolle verloren? Man wisse es nicht, sagte Höhler, denn die Königin der Alternativen sei schließlich eine schweigende Autokratin.