© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Kompakte Klangmassen
Musikgeschichte: Zum hundertsten Todestag des Komponisten Max Reger
Wiebke Dethlefs

Bei kaum einem der in der Musikgeschichte als „groß“ Apostrophierten klaffen Wertschätzung und Popularität so auseinander wie bei Max Reger. Die Musikgeschichte würdigt ihn als den letzten der großen deutschen Meister der Polyphonie, als späten Enkel Johann Sebastian Bachs, dem es gelang, dessen Geist in der Tonsprache des 20. Jahrhunderts wiederzuerwecken. Paul Hindemith nannte ihn den „letzten Riesen in der Musik“.

Reger, der mit nur 43 Jahren an Herzversagen starb, hat ein nicht nur vom Umfang her beeindruckendes Werk hinterlassen: Lieder, Kammermusik, Orchesterwerke, Chormusik und insbesondere Orgelkompositionen. Zusammen mit Richard Strauss war der am 19. März 1873 im oberpfälzischen Brand geborene Reger von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg der musikalische Avantgardist Deutschlands. Der Schüler Hugo Riemanns wird schon als 20jähriger Lehrer am Wiesbadener Konservatorium, 1901 Lehrer an der Akademie der Tonkunst in München. Von 1907 bis 1911 war er am Leipziger Konservatorium Professor für Komposition. Seine künstlerisch vielleicht blühendste Zeit waren dann die Jahre bis 1914 als Hofkapellmeister in Meiningen. Die letzten Lebensjahre verbrachte er als freier Komponist in Jena. In einem Leipziger Hotel starb er am 11. Mai 1916. Wer das letzte Foto Regers vom April 1916 betrachtet, erblickt einen erschöpften, verbrauchten Menschen.

Obwohl der Komponist von kräftiger Statur und immer von guter Gesundheit war, führte der Raubbau aus zuviel Lehrtätigkeit, dem Dirigat von hundert Konzerten pro Saison (ohne Proben) und der immensen Kompositionsarbeit zu dem vorzeitigen Ende (den gewaltigen ersten Satz des Klavierquartetts d-Moll op. 113 soll er in einer Nacht geschrieben haben). Nicht zu vergessen sei in ihren negativen Wirkungen auch Regers Trink- und Verzehrfreudigkeit (erwiesener Ausspruch: „Kellner, bringen Sie bitte jetzt eine Stunde lang Schnitzel“). Seine letzte vollendete Komposition war ein abgeklärtes, luzides Klarinettenquintett, ein Konzertstück für Violine und Orchester blieb Fragment.

Er war kein Schöpfer einprägsamer Motive

Max Reger durfte es aber schon als Mittdreißiger erleben, daß ihm eine leidenschaftliche Anhängerschar landesweit fast alljährlich Reger-Feste veranstaltete. „Hie Reger, hie Strauss“ wurde gleichsam zum Kampfruf. Während Strauss mit exaltierten, schon durch die Thematik „scandalösen“ Opernschöpfungen, in denen er dem Musikdrama Wagners eine erweiterte Form gab, europaweit Aufsehen erregte und durch klanggewaltige symphonische Dichtungen mit zum  Teil literarischem Vorwurf seine Anhänger begeisterte, war Max Reger ein Verfechter der absoluten Musik, womit er derjenige Neuerer wurde, der das Erbe Johannes Brahms’ weiterführte.

Regers erste Schöpfungen waren Klavier-, Kammermusik und vor allem Orgelwerke. 1905 veröffentlichte er seine erste Orchesterkomposition, die Sinfonietta op. 90. Anders als die schon durch ihr blühendes, suggestives Melos und die leuchtende Orchesterbehandlung faszinierenden Werke Strauss’ ist Regers Musik auch in den Orchesterkompositionen fern von äußerer Wirksamkeit und lebt nur, wenn man bereit ist, sich tief in sie zu versenken.

Doch das wird dem Hörer nicht einfach gemacht. Reger war zwar ein Kontrapunktiker höchsten Grades, doch kein Melodiker, er war auch kein Schöpfer einprägsamer Motive. Und in seiner Orchesterbehandlung strebt er ganz bewußt keine feinziselierte instrumentatorische Differenzierung an, sondern verfällt zu oft in kompakte Klangmassen, erst in seinen letzten Orchesterwerken (Böcklin-Suite op. 128, Ballettsuite op. 130, Mozart-Variationen op. 132) erreichte er einen durchsichtigeren Klang.

Regers zwei überdimensionale Solokonzerte für Violine (A-Dur, op. 108; Reger nannte es „mein Riesenbaby“) und Klavier (f-Moll, op. 114), jeweils von fast einer Stunde Spieldauer, sind äußerst schwierig zu exekutieren, dabei aber nicht virtuos, also nicht beifallheischend und somit „undankbar“. Und es verwirrt das Klavierkonzert den Hörer durch die Verwendung protestantischer Choralmelodien im langsamen Satz. Kaum ein Virtuose nimmt die Schwierigkeiten des Einstudierens auf sich. 

Im Konzertsaal ist er heute kaum vertreten

Was aber die Regersche Kunst am wenigsten zugänglich macht, ist die chromatische Polyphonie. Reger denkt auch im kleinsten Klavierwerk mehrstimmig. Zu oft überdecken sich aber die Stimmen. Wenn dann dazu noch unaufhörlich mit Wechselnoten, Alterierungen etc. die harmonische Basis aufgelöst scheint und die Harmonik nur noch nervös irrlichtert, dann kann das für den Fachmann beim Lesen der Partitur unter Umständen ergötzlich sein, der Hörer wird von dieser Musik aber dann zu oft abgestoßen, gelangweilt und unruhig gemacht – vor allem weil eben das melodische Element fehlt.

Vielleicht ist aus solchen Gründen Regers Werk heute im Konzertsaal kaum vertreten. Es gibt sicherlich keinen Musikfreund, der imstande ist, irgendein Regersches Originalthema aus dem Stegreif anzustimmen – und das nicht nur, weil Regers Themen kaum nachsingbar sind. Weder die Lieder noch die Klaviermusik, auch nicht die Kammermusik spielen eine Rolle im gegenwärtigen Musikbetrieb. Und von den Orchesterwerken werden hie und da nur die „Romantische Suite“ op. 125 und die Mozart-Variationen op. 132 gespielt. Zumindest die Orgelwerke werden öfter aufgeführt und sind bei Orgelkonzerten unverzichtbar, wenngleich auch sie die erwähnten Symptome aufweisen.

In der Literatur werden einige Reger-Kompositionen als besonders wenig zugänglich und problematisch erwähnt. Zu ihnen zählt das Klavierquintett c-Moll op. 64, die vielleicht extremste Kammermusik der gesamten Literatur. Die gleichzeitig ablaufenden musikalischen Prozesse – jedes Thema hat zugleich ein Gegenthema, die sich beide motivisch-polyphon verschränken und ein Kontrapunkt den anderen gleichsam totschlägt – und die wild-regellosen Kraftausbrüche der Musik riefen bei der Uraufführung blankes Entsetzen hervor und schockieren auch heute den Hörer noch.

Ein Abbild des inneren Zustands seiner Epoche

Von den Orgelwerken ist die Fantasie und Fuge op. 57 (nicht von ungefähr „Inferno-Fantasie“ genannt) vielleicht noch erregender. Op. 106, „Psalm 100“ für gemischten Chor und Orchester, leidet ebenfalls unter zu großer polyphoner Dichte, was besonders in der Schlußfuge dazu führt, daß Chor und Orchester sich klanglich verzahnen, der Text unverständlich wird, vor allem wenn Reger die ohnehin schon überwuchernde kontrapunktische Fortissimo-Intensität noch durch den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ im schmetternden Klang von vier Posaunen und vier Trompeten überwölbt.

Es ist auffallend, daß in Regers Œuvre viele Variationenwerke vorliegen. Wilhelm Furtwängler sah darin des Komponisten Unvermögen, eigene Themen im Zusammenhang zu entwickeln, so daß er lieber zu den Themen anderer griff.

Sicherlich sind diese kompositorischen „Mängel“, wenn man sie denn überhaupt so nennen darf, keine Ausnahmeerscheinungen im Gesamtwerk, doch charakterisieren sie Regers musikalischen Ausdruck. Max Regers Größe, seine Stellung in der Musikgeschichte, beruht auf seinem ungeheuren kontrapunktischen Können, seinem künstlerischen Ernst wie auch der Strenge und Kompromißlosigkeit seiner Schaffensart.

Eine gerechte Beurteilung des Komponisten ist wahrscheinlich nur möglich, wenn man ihn aus der Zwiespältigkeit seiner Zeit heraus sieht. Der Musikschriftsteller und Komponist Hans Renner bezeichnet ihn als „Suchenden, der in rastlosem Drang Unmögliches anstrebte“ und der darin „eines der Sinnbilder des deutschen Idealismus ist, einer Gesinnung, die man in der Welt als ‘Deutsche Krankheit’ ansprechen kann“.

In seiner widerspruchsvollen künstlerischen Erscheinung, geprägt in gleichem Maß von naiven Lyrismen, von vergeistigter Linearität, bizarrem Humor, unruhiger Kurzatmigkeit und sich auflösender Tonalität, steht Reger vor uns als Traditionalist, Eklektiker und Modernist – darin als weit in die Zukunft weisendes Abbild des inneren Zustands seiner Epoche.

Weiterführende Informationen: Max-Reger-Institut (MRI), Alte Karlsburg Durlach, Pfinztalstraße 7 (Eingang Karlsburgstraße), 76227 Karlsruhe, Telefon: 07 21 / 85 45 01, Öffnungszeiten: Mo.-Do. 8.30 bis 16.30 Uhr, freitags bis 16 Uhr.  www.max-reger-institut.de

Susanne Pop: Max Reger. Werk statt Leben. Biographie. Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 2015, broschiert, 542 Seiten, 39,90 Euro