© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Die Heiligkeit der Anfänge
Ausstellung: Felsbilder aus der Sammlung des Völkerkundlers Leo Frobenius
Karlheinz Weißmann

Der Gedanke, die den Jahrtausenden trotzenden Felswände zu Trägern und Bewahrern der grundlegenden Erscheinungen und Gedanken des Menschenlebens zu machen, hat schon in Urzeiten, lange bevor eine historische Überlieferung irgendwelcher Art einsetzt, Denkmäler geschaffen, die uns heute Kenntnis geben von Kulturen, deren Möglichkeit noch vor kurzem niemand ahnen konnte. Und wir staunen über das Wissen und Können eines verschollenen Menschentums, das uns vor mehr als 10.000 Jahren diese einzigen Spuren seines Daseins hinterlassen hat.“

Die Sätze stammen von Walter F. Otto; niedergeschrieben hat er sie 1937. Das Interesse des Klassischen Philologen an der Religionsgeschichte und die Weite seines Horizonts führten ihn dahin, die um die Wende zum 20. Jahrhundert wiederentdeckten Felsbilder und Felsgravuren als Anfangspunkte unserer Kulturen zu betrachten, an denen sich – bei aller Fremdheit – schon etwas von den geistigen Prägungen abzeichnete, die in späterer Zeit zur Entfaltung kamen.

In dem kurzen Text Ottos wird der Völkerkundler Leo Frobenius ausdrücklich als „Wegfinder“ bezeichnet, als einer jener Männer, die gegen die Übermacht des Positivismus am „Kosmos des Seins und Geschehens“ festhielten und eine Wirklichkeit zur Kenntnis nahmen, die jenseits des Meßbaren, Zählbaren, Wiegbaren liegt. Frobenius war zur Zeit dieser Feststellung eine ebenso bekannte wie umstrittene Gestalt der deutschen Wissenschaft. Seine Theorie einer vorzeitlichen „atlantiden“ Zivilisation, deren Ausstrahlungen in allen späteren er wahrzunehmen suchte, seine Wertschätzung der primitiven, insbesondere der afrikanischen Überlieferungen und sein Konzept von Kulturmorphologie verschafften ihm nicht nur eine Massenanhängerschaft und die Protektion höchster Kreise (Kaiser Wilhelm II. gehörte noch im Exil zu seinen Verehrern), sondern auch viele Feinde innerhalb wie außerhalb seiner Disziplin. Die Gegnerschaft erklärte sich nicht zuletzt aus dem Kollegenneid auf die rastlose Energie, mit der Frobenius reiste, forschte und publizierte.

Seit seiner sechsten Afrikaexpedition im Jahr 1912 nahm Frobenius einen ganzen Stab von Malern mit, die den Auftrag hatten, Felsbilder im Originalmaßstab zu kopieren. Die jetzt im Berliner Gropius-Bau ausgestellten Ergebnisse – Wiedergaben, die zum Teil mehrere Quadratmeter groß sind – waren der Grundstock jener fünftausend Kopien, die Frobenius bis zu seinem Tod anfertigen ließ. Die Vorlagen fanden sich in der Sahara genauso wie in den Savannen Rhodesiens, im australischen Outback wie an den Berghängen Indonesiens, in der Umgebung der steinzeitlichen Höhlen Spaniens wie an den Küsten Skandinaviens. Bei vielen Exponaten lautet die Datierung lapidar „Tausende Jahre alt“, bei anderen – vor allem den nordeuropäischen – ist eine genauere Zuschreibung möglich.

Allerdings standen diese Funde gerade nicht im Zentrum des Interesses. Denn Frobenius ging es in erster Linie um Darstellungen, die viel weiter in die Vergangenheit zurückreichten und deren Gestaltung man bis in die Gegenwart regelmäßig erneuert oder durch ganz ähnliche Ausdrucksformen ergänzt hatte. In Teilen Afrikas wie in Australien war offenbar nicht nur die materielle Kultur, sondern auch das Denken in einer Art ewiger Urzeit befangen geblieben, die auch dazu führte, daß die Bilder der Ahnen nicht nur bis in die Gegenwart hinein konserviert und verehrt wurden, sondern man auch „neue“ anfertigte, die doch nichts anderes als Wiederholungen blieben, weil sich die Heiligkeit der Anfänge gar nicht verbessern läßt.

Dieser dem modernen Menschen so fremde Gedanke hat nicht nur Frobenius fasziniert. Die Berliner Ausstellung betont deshalb neben der lange verkannten wissenschaftlichen Bedeutung des von Frobenius zusammengetragenen Materials die Rezeption der Felsbilder in der Kunst. Zitiert wird auch Alfred Barr, der Gründungsdirektor des New Yorker Museum of Modern Art, mit dem Satz: „Die Kunst des 20. Jahrhunderts steht bereits unter dem Einfluß der großen Traditionen der prähistorischen Felsbilder.“

Erstaunlich ist die Zahl der Künstler, die im Besitz der von Frobenius herausgegebenen Bücher mit Wiedergaben waren, die sie offenbar ähnlich inspirierten wie die Werke von „Naiven“ (Kinder, Geisteskranke). Entscheidender dürfte aber die Wirkung der großen Ausstellung gewesen sein, die in den 1930er Jahren die Kopien nicht nur in den meisten europäischen Hauptstädten, sondern auch in 32 Metropolen der USA zeigte und einen erstaunlichen Publikumserfolg hatte. Dabei war es ohne Zweifel die unmittelbare Verstehbarkeit einerseits, die Rätselhaftigkeit der dargestellten Figuren und Symbole andererseits, die auf den Betrachter Anziehungskraft ausübte. Eine Anziehungskraft, von der man jetzt im Gropius-Bau wieder eine gewisse Vorstellung gewinnen kann.

Die Ausstellung „Felsbilder – Kunst der Vorzeit“ ist noch bis zum 16. Mai im Berliner Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, täglich außer dienstags von 10 bis 19 Uhr zu sehen. Telefon: 030 / 2 54 86-0

Der Katalog mit 272 Seiten (Prestel-Verlag) kostet im Museum 25 Euro.

 www.gropiusbau.de