© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

In der Einbahnstraße der Toleranz
„Religiöse Gefühle“: Auch in Deutschland wird vorauseilend wieder Kunst zensiert
Thor Kunkel

Das mangelnde Selbstbewußtsein eines Volkes zeigt sich oft zuerst in der gleichgültigen Preisgabe von Kunst und Kultur: Im Rathaus Berlin-Köpenick wurden vor einigen Tagen ohne erkennbaren Anlaß zwei Aktfotos aus einer Ausstellung entfernt. Als Auslöser der Selbstzensur werden Migranten mit Einbürgerungsabsichten genannt, die auf ihrem Weg zur Dienststelle vielleicht das eine oder andere Exponat zu sehen bekommen hätten. Obwohl es keine Beschwerden gab, hatte die zuständige Kulturamtsleiterin befürchtet, die „religiösen Gefühle“ von Menschen mit „Migrationshintergrund“ könnten „verletzt“ werden. Man könnte auch sagen, sie verzichtet freiwillig darauf, intoleranten „Neubürgern“ eine Angriffsfläche zu bieten.

Betrachtet man diese Fotos, ist man tatsächlich entsetzt – über die völlige Harmlosigkeit. Jede spätbarocke Plastik im Schloßpark von Sanssouci zeigt mehr naughty bits, jeder Beckmann-Akt in der Nationalgalerie wirkt anzüglicher, wenn Nacktheit überhaupt – seit wann eigentlich wieder? – anzüglich ist. Nun ist es nicht das erste Mal, daß in Berlin – oder anderswo in Europa – Bilder oder Plastiken verhüllt werden, um Muslime nicht zu brüskieren. Die unsere Kultur ablehnenden „Neubürger“ gelten als besonders empfindlich; man weiß, wie schnell sie einschnappen können, denn die ansässigen unken regelmäßig aus ihrem voll alimentierten Alltag heraus: Man erinnere sich nur an die lächerlichen Proteste 2005 (Kunstbiennale in Venedig) und 2006 (Hamburger Bahnhof in Berlin) gegen Gregor Schneiders Würfelskulptur – sie hatte Ähnlichkeit mit der Kaaba in Mekka. Nur welcher Würfel hat das eigentlich nicht?

Peinlicher noch verlief 2013 die Entfernung von expressionistischen Aktbildern aus der Volkshochschule Berlin-Marzahn-Hellersdorf. Auch dort hatte sich der stellvertretende Leiter, Gotthard Hänisch, hinter der Losung „Rücksicht auf Muslime“ verschanzt: „Manche werden meine Entscheidung als übertrieben bezeichnen. Ich nenne es Vorsicht.“ Der Shitstorm, der daraufhin losbrach, läßt vermuten, daß viele Bürger den Eindruck hatten, Hänisch habe nur sein Einknicken vornehm umschrieben.

Doch das „vorsichtige“ Verhüllen, Abhängen und Ausblenden von europäischer Kunst ist längst Standard im Umgang mit Muslimen geworden. Eine psychische Gemengelage aus antrainiertem Fremdschämen, vorauseilendem Gehorsam und einer feministisch forcierten Prüderie, die einer falschverstandenen Political Correctness entspringt, hat es möglich gemacht: Als der iranische Präsident Hassan Rohani im Januar dieses Jahres Roms Kapitolinische Museen besuchte, ließen die Italiener „aus Rücksicht auf den Glauben des Gastes“ viele Nacktstatuen – ja, selbst Reliefs – hinter Tüchern und Bretterverschlägen verschwinden, darunter auch die einzigartige „Venus von Esquilin“, ein Meisterwerk römischer Bildhauerei!

Warum nur sollte ein kultivierter Mensch wie Rohani eine an Ästhetik kaum zu überbietende Statue als Beleidigung seines Glaubens empfinden? Und wenn dem so wäre – ist es dann nicht an ihm, dem Gast, die Kultur seiner Gastgeber zu tolerieren? Toleranz ist keine Einbahnstraße, schon gar nicht, wenn es um unsere identitätsstiftenden europäischen Kulturgüter geht. Rohani hatte aber gar nicht protestiert, es waren die Italiener, die von sich aus ihr kulturelles Erbe zensierten. Und hier liegt die Gefahr: Wer seine eigene Kultur eigenhändig abbaut, versteckt, verhängt oder sonstwie unkenntlich macht, der bestätigt indirekt die kulturellen Vorbehalte der Einwanderer gegen die europäischen Hochkulturen. Er eifert den Bilderzerstörern der Taliban und des IS auf eine zivilgesellschaftlich verbrämte Weise nach.

Ganzkörperskulpturen in griechischen Tempeln

Doch ist Nacktheit wirklich für das Selbstbild der Europäer von Belang? Könnte man nicht freiwillig auf die nackten Tatsachen in den Museen verzichten, wenn man nun bald – aus wahrscheinlich ähnlichen Gründen – auf „sexistische“ Plakate in der Außenwerbung verzichten will?

Die Antwort ist Nein. Seit der Morgenröte des Homo sapiens besitzt der Mensch ein Bewußtsein für soziale und kulturelle Identität, zumindest ist das die Auffassung der meisten Paläoanthropologen. Schon die frühesten Höhlenmalereien aus Spanien zeigen den Menschen stets figürlich in den Weltzusammenhängen, die er brauchte, um als Spezies zu überleben. Sie zeigten ihn als nackten Jäger und Erforscher einer naturmagischen Welt. In der Kunst der Antike setzte sich dieser an den Körper gekoppelte Erkenntnisdrang fort, die Tempel Hellas waren bekanntlich von Ganzkörperskulpturen bevölkert.

Die Darstellung des erstmals anatomisch korrekten Körpers hing mit der einzigartigen hellenischen Volksgesundheit zusammen: Medizinische Errungenschaften, eiweißreiche Ernährung und der Geist der Olympischen Spiele dürften die zeitgeistlichen Auslöser gewesen sein. Polyklet, der wohl bedeutendste altgriechische Bildhauer, betonte dabei als erster die formalästhetische Metrik des Körpers. Im Kern seines „Kanons“ steht die Symbolkraft der schönen Gestalt, was Immanuel Kant später als „Sinnenwahrheit“ verhöhnte, doch die Entdeckung des Goldenen Schnitts erwies sich als mathematische Gesetzmäßigkeit. Biologen vermuten heute, daß unser ästhetisches Empfinden mit dem Ausdruck maximaler Vereinfachung numerischer Beziehungen korrespondiert – oder wie Carl Friedrich von Weizsäcker in seinen Memoiren mutmaßte, „vielleicht (sei) die allgegenwärtig verborgene Mathematik der Natur der Seinsgrund aller Schönheit?“

Die Evolution bevorzugt jedenfalls die stromlinienförmige Form, sie feilt und schleift über Jahrmillionen hinweg, und wenn wir bis heute die Gestalt einer wohlgeratenen jungen Frau bewundern, dann tun wir Europäer das nicht aus animalischer Geilheit, sondern aus einem quasireligiösen Empfinden heraus. Diese Behauptung verdient eine kurze Erklärung: Schon die portativen, steinzeitlichen Kleinplastiken – wie die aus Mammut-Elfenbein geschnitzten Venus-Funde – belegen, welche Mächte wir Europäer bis heute unterbewußt mit Nacktheit identifizieren: Lebenskraft, Schöpfungsgeist, Natur.

Die Bewohner der mittleren Breiten Europas sahen in der fruchtbaren Natur, die sie umgab, eine klare Manifestation Gottes. Alte germanische Feste – wie das Iduana-Fest (Fest der Jugend) in der dritten Märzwoche, Hohe Maien, dann das Freya (also der nordischen Venus) gewidmete Julfest und das bis heute existierende Erntedankfest – erinnern daran, daß es sich vornehmlich um Fruchtbarkeitsfeste handelte, in denen weiblicher Nacktheit eine symbolische Rolle zukam, und dieses Empfinden verbindet bis heute das herrliche Bouquet der Kulturen Europas, all die vielen bunten Saiten, die sich über denselben Resonanzboden spannen! Es bleibt die Meta-Ebene, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts dann in der Lebensreform-Bewegung, der Freikörperkultur und dem Ausdruckstanz freie Bahn suchte.

Die Nacktheit des Menschen ist und bleibt besonders für uns Europäer Erkenntnis, Logik und Ideal der Menschenbildung in reinsten Formen, die perfekte Balance aus sinnlichen und kognitiven Anlagen, äußerer und innerer Vollkommenheit. Während der Islam die Nacktheit des Menschen – und damit die natürliche Schönheit der Frauen – verschleiert, kommt ihr in der europäischen Kunst die höchste Dignität in der ästhetischen Darstellung zu.

Enge Nachbarschaft von Kunst und Wissenschaft

Wer heute ernsthaft Botticellis großformatiges Gemälde „Die Geburt der Venus“ oder Franz Stucks Bild „Die Sünde“ (1893) als „frauenfeindliche, sexualisierte Blickfänge“ diffamiert, der ist im Grunde genommen ein armer Tropf, dem es wahrscheinlich nur darum geht, die Beziehung der Geschlechter zu verkomplizieren. Der Ausspruch „Die nackte Wahrheit“, der sich in fast allen europäischen Sprachen findet, verweist im übrigen noch auf eine andere Facette: Rembrandts Meisterwerk „Die Anatomie des Dr. Nicolaes Tulp“ von 1632 zeigt, wie eng die Nachbarschaft von Kunst und Wissenschaft einst war. Die Erforschung des hüllenlosen, menschlichen Körpers in den Anatomischen Theatern des 17. Jahrhunderts gehört ebenso untrennbar zu Europa wie die Aufklärung.

Während die arabisch-islamische Welt im letzten Jahrhundert in einem zivilisatorischen Stillstand verharrte, wurden von den Europäern im selben Zeitraum Automobile, das Fernsehen, moderne Sanitäranlagen, Medikamente, Flugzeuge, Kraftwerke und viele andere Innovationen erfunden. Ein Muslim, der heute unsere technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften wie selbstverständlich nutzt und von der Ethik unserer Völker profitiert, sollte nicht vergessen, daß es einen evidenten Zusammenhang mit unseren vermeintlich anstößigen Kulturleistungen gibt. Erst recht sollte sich ein hoher Beamter als Repräsentant unserer Zivilgesellschaft darüber im klaren sein, daß er unser freiheitlich denkendes Europa sabotiert, wenn er die Darstellung des Menschen in seiner natürlichen Beschaffenheit aus europäischen Kunstsammlungen verbannt: Wer heute Bilder von Nackten in Deutschland abhängt oder verhüllt, der verschleiert morgen auch Frauen, und es dürften dann dieselben fadenscheinigen Gründe – „aus Vorsicht“ oder „Rücksicht auf religiöse Gefühle“ – angeführt werden.