© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Institutionen oder: Ohne Religion, Tradition und Autorität geht es nicht
Ordnung statt Chaos
Karlheinz Weißmann

Wahrscheinlich war Gewalt noch nie so geächtet wie in der Gegenwart. Das hat allerdings nicht nur rationale Gründe. Denn die Forderung nach „Gewaltfreiheit“ ist längst Teil einer Ideologie, der zufolge Gewaltanwendung grundsätzlich falsch, Gewaltlosigkeit grundsätzlich richtig ist. Ein Konzept, das bei der Entscheidung für vegane Ernährung ebenso zur Geltung kommen kann wie beim Boykott bestimmter Kleidungsmarken, bei der frühkindlichen Erziehung ebenso wie in der „Friedenspädagogik“, beim Courage-Training wie beim „Täter-Opfer-Ausgleich“, bei der Umwidmung von Armeemuseen wie der Schleifung von Kriegerdenkmälern, bei der Bewertung der „Verhältnismäßigkeit“ von Polizeieinsätzen wie bei der Einschätzung von Militäraktionen unter UN-Mandat.

Dahinter können eher taktische oder prinzipielle Erwägungen stehen, konkrete Zielsetzungen oder Utopien, Rousseaus Einschätzung, daß der Mensch nichts wolle als „Nahrung, ein Weibchen und Ruhe“, oder eine wissenschaftliche Theorie, der zufolge „Krieg nur […] eine Erfindung“ (Margaret Mead) war und durch andere, bessere Erfindungen ersetzt werden könnte.

Eine Institution bedarf einer „Leitidee“, die ihr erst Leben einhaucht, ihre Erneuerung ermöglicht und sie weiter arbeiten läßt, wenn der Gründungsakt schon längst vergessen ist. Darin liegt die eigentlich staatliche vis conservandi, „die Kraft zu erhalten“.

Schon der Hinweis, daß Gewalt unbestreitbar Teil der Natur ist, eigentlich das entscheidende Mittel der Selektion und insofern lebensdienlich, führt zu Irritationen. Die meisten Zeitgenossen wären kaum bereit, zu akzeptieren, daß es sich bei der Aggression um einen „großen Trieb“ (Konrad Lorenz) handelt, ähnlich Fortpflanzung, Ernährung oder Fluchtbereitschaft, und daß er die biologischen Grundlagen auch unserer Spezies sichert. Dabei stellt Aggression auf Kampfbereitschaft ab und erzeugt so einen sinnvollen Handlungsdruck, dessen negative Aspekte für die menschliche Gemeinschaft nur gezähmt und gedämpft, aber nicht vollständig beseitigt werden können. Die Beseitigung scheint in dieser Perspektive auch gar nicht wünschenswert, weil der Ausfall des „Kampftriebes“ (Lorenz) die Vitalität selbst stillegen würde.

Die Vorstellung von produktiver Gewalt ist den meisten Menschen in den westlichen Ländern fremd geworden. Unter historischen Ausnahmebedingungen haben sie sich an die Idee gewöhnt, daß alle wesentlichen politischen Probleme gewaltfrei geklärt werden könnten, wenn man nur guten Willens sei. Dagegen spricht allerdings schon die Tatsache, daß auch jeder heute maßgebliche Staat das Ergebnis eines Gewaltakts ist, das heißt der Durchsetzung eines politischen Willens durch Anwendung von Zwang gegen Widerstrebende. Man war entweder Täter – die USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich – oder Opfer – Deutschland, Japan, China – bei einem mehr oder weniger rohen Vorgehen, das immer mit Kriegen, Revolutionen und Vertreibungen verbunden war.

Aber die modernen Gesellschaften trachten zu vergessen. Der französische Kulturwissenschaftler René Girard spricht von der Neigung, die Bedeutung der „Gründungsgewalt“ zu ignorieren, eine ebenso fatale wie aussichtslose Anstrengung, die aber ganz wesentlich dazu beigetragen hat, auf dem alten Kontinent einen Politikertypus durchzusetzen, der mit dem, was ursprünglich und eigentlich Aufgabe des Staates war, wenig oder nichts mehr anzufangen weiß. Er möchte in jedem Fall für seine guten Absichten belohnt werden und meint, daß Abstimmung, Gespräch, Kompromiß oder auch Parteiloyalität, Korruption, Intrige genügen. Er hat jedenfalls kein Verständnis für die Wahrheit, daß der Staat unter allen Umständen „Machtorganisation“ sein muß und immer der „Machtstützen“ bedarf (Hermann Heller).

Die wichtigsten Machtstützen sind Institutionen wie Armee, Behörde, Gericht, Schule und so weiter. Deren Vorhandensein sichert die Funktionstüchtigkeit des Staates, aber aus ihrer Funktion ist die Institution nicht hinreichend zu erklären. Wenn die Armee das Land schützt, die Behörde die Verwaltung organisiert, das Gericht Urteile fällt und die Schule erzieht und Bildung vermittelt, so erfüllen sie damit ihre Aufgabe; im guten Fall haben sie die notwendigen Mittel, und es gelingt ihnen, das Personal zu rekrutieren, das geeignet ist, zu tun, was getan werden muß.

Allerdings hat noch ein Element hinzuzukommen, das heute meistens vergessen wird, wenn man über Institutionen spricht: eine Institution bedarf einer idée directrice, einer „Leitidee“ (Maurice Hauriou), die ihr erst Leben einhaucht, ihre Erneuerung ermöglicht und sie weiter arbeiten läßt, wenn der Gründungsakt schon längst vergessen ist. Darin liegt die eigentlich staatliche vis conservandi, wie ein kluger Römer gesagt hat, „die Kraft zu erhalten“. Daher haben bedeutende Institutionen, denen es gelang, die Zeit zu überdauern – der preußische Generalstab, die Kaderschmieden des französischen Staates, die englische Monarchie, die katholische Kirche – immer verstanden, ihren Trägern einen besonderen Stolz einzuflößen, sie mit der Überzeugung zu erfüllen, daß das, was sie tun, nicht irgendeine Tätigkeit ist, sondern Dienst an einer höheren Sache.

Von dieser Fähigkeit ist wenig geblieben, was nicht allein mit der langen Friedensperiode nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem allgemeinen Wohlstand und dem Hedonismus erklärt werden kann. Es gibt heute auch einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber Institutionen, weil man deren hierarchischem Aufbau, deren auch auf Zwang beruhenden Ordnungen und schematisierenden Vorgaben mißtraut: Nichts davon ist „demokratisch“, „liberal“, „open minded“, „easy going“.

Allerdings hat das Ursachen. Denn immer war der Aufbau von Institutionen, ganz gleich in welcher Weltgegend er gelang, ein mühseliger, stets gefährdeter, von Rückschlägen bedrohter Prozeß. Jedenfalls haben umfassende Untersuchungen früherer Gemeinwesen gezeigt, daß niemals der Sprung vom weitgehend egalitären, führerlosen Clan zu einer anspruchsvolleren Sozialform gelang. Es waren stets Zwischenschritte nötig, vereinfacht gesagt: von der Horde zum Stamm zum Stammesfürstentum zum Staat.

Nie läuft die Entwicklung automatisch ab. Das heißt, es kann zum Stillstand, zum Abbruch oder Scheitern kommen – die Geschichte kennt dafür zahllose Beispiele – und auch dahin, daß ein schon erreichtes Niveau nicht länger gehalten wird und der schon errichtete Staat in kleinere Formationen auseinanderbricht; Afrika mit seinem „Tribalismus“ bietet dafür zahllose Beispiele.

In Europa ist das nicht oder noch nicht die größte Gefahr. Hier hat man es eher mit dem Verlust der Fähigkeit zu tun, die richtigen Entscheidungen im Hinblick auf den Bestand, den Ausbau oder die notwendige Veränderung von Institutionen zu „treffen.

Diesen Begriff hat einer der besten Kenner der Materie, Arnold Gehlen, benutzt, um deutlich zu machen, daß es einer besonderen Art von politischem Instinkt bedarf, um eine Institution am Leben zu erhalten. Der fehlt den heute Verantwortlichen. Wer der Meinung ist, daß der Lehrer nur einen „Job“ macht, daß der Richter lediglich dafür sorgt, die Einhaltung bestimmter, im letzten aber beliebiger, Regeln zu bewirken, daß der Beamte eigentlich ein Störfaktor im freien Wettbewerb der Kräfte ist und der Soldat auch ohne soldatische Tugenden auskommt, hat diesen Zusammenhang nicht verstanden. Der britische Historiker Niall Ferguson spricht von „institutioneller Degeneration“. Als Ursachen nennt er neben dem Verfall der Rechtsstaatlichkeit und der sich ausbreitenden Bestechlichkeit vor allem die Deregulierung ganzer Bereiche des Wirtschaftslebens und den Abbau aller Vorstellungen von Gemeinwohl.

Institutionen beruhen immer auf Disziplin, der alle unterworfen sind, der Anstrengungsbereitschaft, die man von ihren Trägern zu erwarten hat, und der Einsicht, die ihre Spitzen haben müssen, weil sie über die notwendige Kompetenz verfügen.

Man könnte auch sagen, daß die Gesellschaft darangeht, den Staat zu überwältigen und zur Beute zu machen. Die Gefahr ist früher schon beschworen worden, aber erst in der Gegenwart mit ihrer unübersehbaren Menge an Einflußnehmern, Lobbys, Nichtregierungsorganisationen und international agierenden Netzwerken scheint es denkbar, daß das Ziel erreicht wird.

Der Erfolg des Angriffs hat zuletzt aber mit einer Mentalität zu tun, die im Westen seit langem herangezüchtet wurde und die „römische Dreieinigkeit“ (Hannah Arendt) – Religion, Tradition, Autorität – immer und grundsätzlich in Frage stellt. Gemeint ist die Verweltlichung, die zum Bedeutungsverlust des Christentums geführt hat, der Druck der Modernisierung auf alle Überlieferungsbestände und jene merkwürdige Machtfremdheit, von der schon die Rede war.

In der Vergangenheit wurde im Zweifel eine Glaubensform durch eine andere, ein Bestand an Überzeugungen, Sitten und Gewohnheiten durch einen anderen, eine Potenz durch eine andere ersetzt. Das unterscheidet unsere Situation von früheren. Der Mensch des Wohlstandsgürtels der nördlichen Halbkugel hält eine Existenz jenseits von Religion, Tradition und Autorität für denkbar. Mancher hält sie sogar für wünschenswert. Entweder weil er die gegenwärtigen Zustände als tragfähig betrachtet, ein Ergebnis jenes Fortschritts, der sich immer weiter treibt, oder weil er hofft, daß der „Minimalstaat“ die Bevormundung durch die Obrigkeit beendet und hilft, die drückende Steuerlast abzuschütteln, oder sich sein Konzept des Politischen auf ein allzu optimistisches Menschenbild und ein paar humanitäre Phrasen beschränkt.

Durch historische Erfahrungen sind diejenigen, die so denken, kaum zu beeindrucken, aber möglicherweise durch aktuelle. Denn unter den gegebenen Umständen zeigt sich, wie sehr jede Ordnung durch chaotische Tendenzen bedroht ist, wie sehr sie auf ihre Institutionen angewiesen bleibt. Die beruhen immer auf einer Disziplin, der alle unterworfen sind, der Anstrengungsbereitschaft, die man von ihren Trägern zu erwarten hat, und der Einsicht, die ihre Spitzen haben müssen, weil sie über die notwendige Kompetenz verfügen: der „geschulten Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten“ (Max Weber). Sind diese Bedingungen nicht gegeben, werden die Institutionen unter Druck ihre Aufgaben nicht erfüllen.





Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitet im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­+6sachsen.

Karlheinz Weißmann: Rubikon. Deutschland vor der Entscheidung. JF-Edition, Berlin 2016, gebunden, 272 Seiten, 19,90 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung des Autors – ein Auszug aus dem Kapitel „Staatsver-sagen“.

Foto: Im Säulengang der Walhalla in Donaustauf: Nichts davon ist „demokratisch“, „liberal“ oder „easy going“