© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Träume vom supranationalen Preußen
Der japanische Historiker Hajime Konno erinnert an den polnisch-preußischen Patrioten Graf Hutten-Czapski
Oliver Busch

Wer vor hemdsärmeligen Vereinnahmungen historischen Personals nicht zurückscheut, für den böte sich in diesen Zeiten der Kritik an Wladimir Putin die Besinnung auf einen prominenten polnischen Russenfeind an: Bogdan Graf von Hutten-Czapski (1851–1937).

Trotzdem dürfte es purer Zufall sein, wenn jetzt im Frühjahrsheft des deutschen geschichtswissenschaftlichen Zentralorgans, der Historischen Zeitschrift (Band 302/1–2016), an den preußisch-polnischen Adligen mit dem klingenden Namen erinnert wird. Zumal der Verfasser des Beitrags über „Hutten-Czapski und die polnische Frage“, Hajime Konno, Professor an der Universität der Präfektur Aichi, als ein über den deutsch-polnisch-russischen Konflikten stehender japanischer Neutraler gelten darf. Konno, der 2009 unter dem Titel „Die Sehnsucht nach dem multinationalen Preußen“ eine Monographie über den Grafen veröffentlichte, geht es in diesem Text, offenbar einer Kurzfassung seines nicht ins Deutsche übersetzten Buches, nicht um politische Instrumentalisierung einer Persönlichkeit, sondern darum, an eine einst schillernde und höchst einflußreiche, heute aber fast vergessene Gestalt zu erinnern. 

Dabei hält er sich weitgehend an die 1936 erschienene zweibändige Autobiographie Hutten-Czapskis, die gleich mit dem ersten Satz auf ein Leben voller Widersprüche neugierig macht: „Adlige Geburt, polnische Nationalität, preußische Staatsangehörigkeit, katholische Konfession, liberale politische Gesinnung, wirtschaftliche Unabhängigkeit, kosmopolitische Erziehung, Lebensfreude, Wissensdrang, Arbeits- und Wanderlust – das sind die ererbten und in allem Wandel der Zeiten und Anschauungen bestimmenden Elemente meines langen Lebens gewesen.“

Weil ihm selbstverständlich wie die Luft zum Atmen, erwähnt der Angehörige der „Blauen Internationale“ des europäischen Hochadels hier nicht, was für seinen Lebensweg weitaus bestimmender gewesen war als Nationalität oder Konfession: die gesellschaftlichen Beziehungen. Durch Freundschaften der in Berlin erzogenen Mutter, Eleonora Gräfin Mielzinsky, Erbin eines 25.000 Hek-tar umfassenden Besitzes in der Provinz Posen, fand ihr Sohn früh Zugang zum preußischen Hof und durfte sich bald als „Günstling“ Kaiser Wilhelms I. fühlen. Äußerlich kein bedeutsamer Kavallerieoffizier, allerdings als solcher der reichste Major im preußischen Heer, rückte er 1895 als erbliches Mitglied ins Herrenhaus ein, wurde 1901 ins Ehrenamt eines Schloßhauptmanns der königlichen Residenz Posen ernannt, ohne daß diese Positionen etwas über die wahre Machtstellung des auch am Hof Wilhelms II. wohl gelittenen „Wanderers zwischen den Welten“ verraten hätten. 

Die wurde zwischen 1906 und 1908 erstmals sichtbar, als Hutten-Czapski den Widerstand des Herrenhauses gegen das moderate „Enteignungsgesetz“ organisierte, mit dem Reichskanzler Bernhard von Bülow den expandierenden polnischen Nationalismus in Posen und Westpreußen eindämmen wollte. Und sie zeigte sich nach Kriegsausbruch 1914, als der Graf, eine eigentlich „unzuständige Person“, wie Konno vermerkt, das Ohr des Kaisers wie des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg in der „Polenfrage“ fand. Für einen Sonderfrieden mit Rußland hätte die Reichsleitung den Status quo, die Herrschaft des Zaren über Polen, jederzeit konzediert. Hutten-Czapski gelang es jedoch, die Weichen für ein unabhängiges Polen zu stellen, das sich Ende 1916 zunächst als Königreich konstituierte.

Wie Konno betont, habe Hutten-Czapski weder im Kampf gegen die preußische Minderheitenpolitik im Osten noch während des Ersten Weltkrieges so agiert, wie ihn seine Gegner einstuften: als „fanatischer“ polnischer Chauvinist. Vielmehr sei diese „auffälligste und merkwürdigste Gestalt in wilhelminischen Hofkreisen“ gleichermaßen polnischer wie preußischer Patriot gewesen, der sich Preußen als „supranationalen Staat“ wünschte. Im „Namen der westlichen Zivilisation“ hätte dieses deutsch-polnische Gebilde erfolgreich Europas Front gegen Rußland verteidigt.