© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

„Der Beginn des 21. Jahrhunderts“
„Rubikon. Deutschland vor der Entscheidung“ heißt das neue Buch des Publizisten Karlheinz Weißmann. Es prophezeit nichts weniger als eine Zeitenwende
Moritz Schwarz

Herr Dr. Weißmann, wer überschreitet diesmal den Rubikon? 

Karlheinz Weißmann: Wir – die Deutschen, die Europäer – überschreiten ihn. Wie Cäsar. Ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, ob wir es mit Entschlossenheit tun oder uns dem, was kommt, einfach ergeben.

Und was bedeutet das? 

Weißmann: Das bedeutet, daß die Auseinandersetzung um die großen Fragen wieder beginnt. Die großen Fragen sind vor allem Legitimationsfragen. Nicht mehr nur „Wie?“, sondern „Warum?“ soll etwas geschehen, als richtig anerkannt, als verpflichtend betrachtet werden. Und die Klärung kann nicht glimpflich abgehen. Da reichen Kompromißbereitschaft, Sitzfleisch oder Intriganz nicht länger. Da geht es um Politik im Großen.

Inwiefern steht „Deutschland vor der Entscheidung“, wie der Untertitel Ihres Buches lautet?

Weißmann: Mir geht es um die Analyse dessen, was vor unser aller Augen abläuft und was der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt „beschleunigte Prozesse“ nannte. Abschnitte der Geschichte, in denen sich das historische Tempo steigert, vor allem durch Revolutionen, Wanderungen, Kriege. Wenn Sie nur die beiden letzten Jahre Revue passieren lassen, wird Ihnen auffallen, wie viele Krisensymptome schon wieder aus dem Blick geraten sind. Das gilt selbst für die Annexion der Krim, den Bankrott Griechenlands, den Syrienkrieg oder jene antipolitischen Bewegungen, von denen „Nuit debout“ in Frankreich nur ein jüngster Ausläufer ist. Allein diese Häufung spricht dafür, daß der Fluß der Geschichte nicht mehr ruhig dahinzieht, sondern schneller strömt, reißend wird.

Aber ist das nicht eine Alarmmeldung, die man aus  – konservativen – publizistischen Kreisen schon seit Jahrzehnten hört? 

Weißmann: Kassandra ist eine konservative Figur. Die Konservativen haben ja nicht aus Freude am Panikmachen „Alarm!“ gerufen. Sie haben es getan, weil sie die Abwärtsbewegung beobachten und sehen, was uns bevorsteht. Der Konservative ist der Mensch vor der Geschichte; und historische Phantasie kann im Recht sein, mag den Zeitpunkt verfehlen, aber nicht die Sache selbst.

Ihrem Buch stellen Sie eine außenpolitische Rundumbetrachtung voran. Was hat diese mit der „Rubikon“-These zu tun, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

Weißmann: Das, was Sie eine „außenpolitische Rundumbetrachtung“ nennen, ist eine historische Standortbestimmung: Wir erleben jetzt den Beginn des 21. Jahrhunderts. Das 20. Jahrhundert, gekennzeichnet vom Konflikt zwischen den Supermächten Rußland und Amerika, ist vorbei. Das Interregnum, das die Zeit seit 1989 – dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems und dem Scheinendsieg des Westens – bestimmte, ist auch vorbei. Die Bipolarität des Kalten Krieges wurde nicht auf Dauer durch Monopolarität abgelöst. Nach dem Niedergang der USA als einziger Weltmacht wird die Zukunft von einem multipolaren System bestimmt sein. Das wird das 21. Jahrhundert kennzeichnen. Übrigens eine Auffassung, die konservative Denker im angelsächsischen Raum seit längerem vertreten.

Im Grunde beginnen Sie Ihr Buch allerdings mit dem Thema „Dekadenz“, beziehungsweise mit einem Beispiel dafür: die Silvesternacht von Köln. 

Weißmann: Dekadenz ist unser zentrales Problem. Dekadenz heißt in erster Linie Formschwäche. Natürlich gibt es objektive Gründe für den Verfall von Eliten, Staaten, Kulturen, aber entscheidend ist doch die Aufgabe des Willens, vor allem des Willens zur Selbstbehauptung. Man läßt sich gehen, zuckt die Achseln, „kann sowieso nichts machen“. Und Köln war, wenn sonst nichts, dann ein signifikantes Beispiel für fehlenden Willen zur Selbstbehauptung, angefangen beim Staat, der sich als unfähig erwies, seine Bürger zu schützen, endend beim einzelnen Mann, der gekniffen hat, und, statt seine Frau zu verteidigen, lieber weggelaufen ist.

Dekadenz und nicht die Zuwanderung ist unser „zentrales Problem“?

Weißmann: Wie schon erwähnt sind Wanderungen ein typisches Merkmal „beschleunigter Prozesse“. Ob Sie Marx oder Spengler nehmen, beiden war klar, daß Migrationen im großen Maßstab eine revolutionäre Wirkung haben. Die kann schleichend sein und anonym oder gleich als Teil einer militärischen Eroberung gedacht. Seit den 1970er Jahren ist immer wieder davor gewarnt worden, welche fatalen Folgen eine ungesteuerte und ungehemmte Einwanderung nach Europa haben wird – ohne erkennbare Reaktion. Die Politische Klasse jedenfalls hat beschlossen, die Dinge laufen zu lassen und jenen verantwortungslosen Kräften die ideologische Oberhoheit ausgeliefert, die uns den Multikulturalismus schmackhaft machen sollten. Das wurde von großen Teilen der Bevölkerung seit je mit Unbehagen beobachtet, aber das Establishment setzte mit Grund auf deren Trägheit. Die hat sich erst gelöst, als die Bilder von langen Zügen fremder Menschen, die auf unser Land zumarschierten, allgegenwärtig waren. Das hat die einen auf die Straße getrieben, die anderen zu massiven Unmutsbekundungen in virtuellen Foren und dritte dazu, sich einer neuen Partei anzuschließen. Das heißt, die Menschen sehen sehr wohl, daß die Dinge nicht bleiben können wie sie sind, und sie verlangen, daß man ihnen nicht länger mit ruchlosem Optimismus kommt –, sondern mit Lösungsvorschlägen.

Verantwortlich für diese Dekadenz machen Sie den Liberalismus. Wieso das? 

Weißmann: Weltanschauungen haben ihre Zeit. Das gilt auch für den Liberalismus. Dessen Epoche war das 19. Jahrhundert. In der Moderne kann er nur noch auf Selbstverständlichkeiten Bezug nehmen oder destruktive Wirkungen entfalten. Ein kluger Liberaler – Walter Bagehot – meinte schon vor langem, daß Liberalismus nur funktioniere, wenn die von ihm postulierten Rechte lediglich von einer Minderheit in Anspruch genommen werden. Das, was ich das „liberale Syndrom“ nenne, ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, daß diese Rechte auf die ganze Menschheit ausgedehnt werden. Der Liberalismus enthüllt damit seinen antipolitischen Kern. Für ihn gibt es Individuen, Interessen und Wahlmöglichkeiten, die das Individuum nach den Regeln der Vernunft wahrnimmt. Für ihn gibt es keine Gemeinschaften, keine Identität, keine Bindungen jenseits der Ratio und keine unaufhebbaren Antagonismen.

Für Sie führt von dort ein direkter Weg zum „Staatsversagen“. Warum das?

Weißmann: Staatsversagen liegt dann vor, wenn ein Staat nicht mehr in der Lage ist, den elementaren Zusammenhang von Schutz und Gehorsam aufrechtzuerhalten. Sie können die durchsickernden Tatsachen zur dramatischen Zunahme von Wohnungseinbrüchen natürlich als Nebensache abtun. Aber auch als Symptom für Staatsversagen ansehen. Denn wenn die einzige Reaktion der Ordnungsmacht Staat die ist, daß sie dem Mieter oder dem Eigentümer empfiehlt, sich selbst zu kümmern, dann heißt das eben: Es gibt keine Schutzpflicht, worauf der Bürger eher über kurz als über lang damit reagieren wird, daß es dann auch keine Gehorsamspflicht gibt. Oder wenn der eine Innenminister im Bundesland X erklärt, es existierten keine „No-go-Areas“ in Deutschland und nächstens der Innensenator im Bundesland Y triumphierend erklärt, man habe einen entscheidenden Schlag gegen arabische Clans geführt, die ganze Straßenzüge beherrschen, dann wird selbst dem Wohlmeinenden klar, daß es mit dem Gewaltmonopol nicht mehr weit her ist.

Dieses Versagen, schreiben Sie, münde in ein „neues Mittelalter“. Was soll das sein?

Weißmann: Das Fehlen eines Gewaltmonopols und das Zurückwerfen des Schutz-Gehorsam-Zusammenhangs auf das, was man den „Personenverband“ nennt, sind typische Merkmale des Mittelalters gewesen. Aber Sie können auch noch andere Sachverhalte geltend machen: das Fehlen klar definierter Territorialgrenzen ist typisch mittelalterlich und selbstverständlich das massenhafte Auftreten von Unfreiheit. In der EU rechnet man mit etwa einer Million Menschen, die wie Sklaven gehalten werden. Und dann natürlich die Rechtsungleichheit: In Frankreich wird Vielweiberei längst akzeptiert, wenn es um die Alimentierung afrikanischer Einwandererfamilien geht, in Großbritannien hat sich sogar die anglikanische Kirche für die Anerkennung von Scharia-Gerichten stark gemacht, und bei uns werden Sonderregeln, Privilegien, Quoten für irgendwelche Korporationen – Frauen, Menschen mit Migrationserfahrung, Menschen aus prekären Verhältnissen – in allen möglichen Bereichen als selbstverständlich angesehen.

Wie bewußt, glauben Sie, ist dies unseren Eliten? Sehen sie die Entwicklung nicht? Oder ignorieren sie diese? 

Weißmann: Mir ist das Gespräch mit einem Bundesminister im kleinen Kreis, Mitte der neunziger Jahre, in Erinnerung. Da stellte ich ähnliche Fragen. Und lachend wurde mir geantwortet, daß ich doch nicht glauben sollte, daß man sich im „Raumschiff Bonn“ ernsthaft für das interessiere, was den Mann auf der Straße angehe, oder daß das „Wohl des Vaterlandes“ für die Spitzen der Politischen Klasse irgendeine Rolle spiele. Das ist im „Raumschiff Berlin“ auch nicht anders. Und solche Haltungen sind für Eliten, die lange ungefährdet an der Macht waren, typisch. Man lebt in geschlossenen Milieus, ist sich seiner Stellung gewiß und pflegt gegenüber dem Volk – dem „großen Lümmel“, wie man im Vormärz sagte – Distanz und eine gewisse Herablassung.

Es ist also nicht zu erwarten, daß die Eliten ihre Haltung korrigieren und die Probleme doch irgendwann bekämpfen werden?

Weißmann: Jedenfalls erwarte ich nicht, daß die Eliten ihre Position aus besserer Einsicht ändern. Die, die oben sind, wissen ganz genau, daß sie nur oben bleiben, wenn der babylonische Turmbau stehenbleibt. Dessen Fundamente werden aber unterspült, um im Bild zu bleiben. Und dann gibt es natürlich auch Kräfte, die darangehen, die Stützpfeiler einzureißen.

Nämlich? Wen meinen Sie?

Weißmann: Ich meine damit die Kräfte, die der bekannte US-Journalist Fareed Zakaria als „illiberale Demokraten“ bezeichnet hat. Das sind all jene Bewegungen, die das Grundvertrauen in die Politische Klasse und deren mediale Verbündete aufgegeben haben. Sie agieren „von unten“. Sie stützen sich auf eine wachsende Zahl von Menschen, die nicht länger überzeugt sind, daß man mit immer weniger Staat und immer mehr Markt, mit immer weniger Heimat und immer mehr Globalisierung, mit immer weniger „Wir“ und immer mehr „Die“ konstruktive Politik treiben kann. Der ungarische Premier Viktor Orbán steht genauso für diese Tendenz wie die meisten der sogenannten populistischen Bewegungen in West- und Nordeuropa.

Welche Rolle spielt nach Ihrer Ansicht in diesem Zusammenhang die AfD?

Weißmann: Nun, die Deutschen sind politisch immer schon Spätzünder gewesen. Deshalb hat sich die Entstehung einer echten Oppositionspartei auch so lange verzögert. Die ist mit der AfD entstanden und hat die ersten Häutungen erfolgreich hinter sich gebracht und ist offenbar dabei, eine politische Kraft zu organisieren, die „das Volk“ – also die Menge der hart arbeitenden, steuerzahlenden, gesetzestreuen, familiengründenden Männer und Frauen – repräsentiert. Ich habe den Weg der Alternative für Deutschland von Anfang an mit Optimismus begleitet, bin zwar nicht über jede Wendung glücklich gewesen, sehe aber auch keine Ursache, meine grundsätzliche Einschätzung zu korrigieren.

Die „FAZ“ hat die AfD als „nationalkonservativ“ bezeichnet …

Weißmann: … das trifft es sicher nicht ganz. Aber wir Deutschen sind ja nicht nur Spätzünder, sondern auch Meister der Synthese. Also warum nicht und bis uns etwas Besseres einfällt „volks-konservativ“, „sozial-konservativ“, „patriotisch-sozial“. Aber im Grunde ist das Etikett nicht so wichtig: Hauptsache, die Inhalte und die Dynamik stimmen. 

Und was genau können wir von der AfD noch erwarten? 

Weißmann: Fürs erste Geschlossenheit, Disziplin, Angriffsgeist. Fürs zweite die Bereitschaft und die Fähigkeit, ein paar Alpträume unserer Gegner Wahrheit werden zu lassen.

Und was haben Sie sich als nächstes vorgenommen?

Weißmann: Nun, ich werde tun, was ich kann. Also das nächste Buch in Angriff nehmen und die nächste Zeitschrift gründen.

Sie wollen eine Zeitschrift gründen?

Weißmann: Ja, das Konzept steht, der Titel steht. Es wird Zeit für eine Plattform, die der konservativen Intelligenz zur Verfügung steht.






Dr. Karlheinz Weißmann, der Publizist und Historiker veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher, darunter den JF-Bestseller „Deutsche Geschichte für junge Leser“, „1914. Die Erfindung des häßlichen Deutschen“, „Das konservative Minimum“, den Ullstein-Band „Rückruf in die Geschichte“ und „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933–1945“, das 1995 als neunter Band in der populären Propyläen-Reihe „Geschichte Deutschlands“ erschienen ist. Geboren wurde Karlheinz Weißmann 1959 im niedersächsischen Northeim. Er studierte Geschichte und evangelische Theologie und unterrichtet seit 1983 als Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen. Seit 1988 schreibt er auch für die JUNGE FREIHEIT, in der er seit 2010 zudem alle zwei Wochen seine Kolumne „Gegenaufklärung“ veröffentlicht, die in einer Auswahl 2013 auch als Buch erschienen ist. Mit „Rubikon“ legt Weißmann nun eine Tour d‘Horizon zur „Entscheidungssituation“ vor, in die unser Land angesichts der jüngsten Krisen geraten ist. Den Band widmet er all jenen, „die daran festhalten, daß Deutschland gerettet werden soll“.   

Foto: Historiker Weißmann: „Mir geht es um die Analyse dessen, was da vor unser aller Augen abläuft. Das Interregnum, die Zeit seit 1989, ist vorbei ... Der Strom der Geschichte wird reißend“

 

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