© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

„Die EU hat uns gar nichts vorzuschreiben“
Die EU, die Türkei und die Visafreiheit: Präsident Erdogan brüskiert Brüssel / Mühsam ausgehandeltes Türkeipaket auf der Kippe
Josef Hämmerling

Kippt die Visafreiheit für türkische Staatsbürger doch noch? Obwohl die EU-Kommission erst am 4. Mai diese „unter Vorbehalt“ beschloß, scheint die Türkei nicht bereit, eine der Hauptforderungen der EU zu erfüllen: die Überarbeitung des Terrorbegriffs. 

Gefordert wird, daß sich die türkischen Gerichte, Sicherheitskräfte und Behörden bei der Terrorbekämpfung an EU-Standards halten. Das Land müsse dies umsetzen, um „das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf faire Gerichtsverfahren und auf die freie Meinungsäußerung zu gewährleisten“. 

Nach Ansicht der EU-Kommission ist dieser Punkt 65 auf der Auflagenliste nicht erfüllt. So seien zum Beispiel noch immer mehrere Journalisten wegen ihrer regierungskritischen Berichterstattung in Haft und drohten ihnen lange Haftstrafen.

„Wir gehen unseren Weg, geht ihr euren“

Der türkische Präsident Recep T. Erdogan stellte jedoch am Freitag klar, daß sein Land die entsprechenden Gesetze auf keinen Fall ändern werde. „In einer Zeit, in der die Türkei unmittelbar von Terrororganisationen und ihnen helfenden Mächten angegriffen wird, schreibt uns die EU vor, wir sollen unsere Antiterrorgesetze ändern“, polterte der 62jährige und erklärte in Richtung Brüssel: „Wir gehen unseren Weg, geh du deinen Weg.“ 

Wer PKK-Aktivisten gestatte, am EU-Ratsgebäude ein Zelt aufzuschlagen und die Flagge eines selbst von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuften Bündnisses zu genehmigen,  müsse selbst erst einmal seine „Mentalität“ ändern. 

Zuvor hatte die EU-Kommission im Zuge des Flüchtlingsdeals türkischen Staatsbürgern ab dem 1. Juli 2016 „unter Vorbehalt“ eine Visafreiheit für Reisen in die Europäische Union eingeräumt. Dadurch würde es Türken möglich, für 90 Tage pro Halbjahr auch ohne Visum in den Schengen-Raum einzureisen. 

Bislang mußten Türken, die etwa ihre Verwandten in Deutschland besuchen wollten, Rückreisebelege nachweisen, ebenso wie eine Krankenversicherung und gesicherte finanzielle Verhältnisse. Auch Geschäftsleute würden stark von einer Visafreiheit profitieren, da diese oftmals kurzfristig erforderlich sein könne. Notwendig für die erleichterte Einreise wären allerdings biometrische Reisepässe, über die bislang nur etwa zehn Prozent der Türken verfügen.

Bei vielen Regierungen und Politikern stoßen diese Pläne jedoch auf Widerstand. Sie befürchten einen verstärkten Zuzug türkischer Familienmitglieder oder auch von Kurden, die in der Türkei politisch verfolgt werden. Das könnte dazu führen, daß diese Konflikte mehr und mehr im Ausland ausgetragen werden. So bezweifelte dann auch der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff, daß es für die Visafreiheit eine Mehrheit im EU-Parlament geben wird. Vorbehalte gibt es ebenfalls im Rat der EU-Mitgliedsstaaten. Nach Ansicht des französischen Präsidenten François Hollande sollte es „keine Zugeständnisse bei Fragen der Menschenrechte oder der Kriterien für die Visa-Liberalisierung geben“. Ins gleiche Horn stieß die jüngst zurückgetretene österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner: „Es ist richtig, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, aber nicht um jeden Preis.“

Auch der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Mayer, erklärte in einem Interview, daß sich die Türkei in den vergangenen Jahren „nicht nach vorne, sondern zurückentwickelt hat“. Zwar hat die EU-Kommission die Möglichkeit einer Notbremse vorgesehen. Danach könne die Visafreiheit kurzfristig wieder beendet werden, wenn sich zum Beispiel zeige, daß die 90-Tage-Frist vielfach nicht eingehalten wird oder es anderen Mißbrauch gibt. In vertraulichen Hintergrundgesprächen bezweifeln allerdings viele Politiker, ob dies so einfach möglich wäre, ohne das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen der EU und der Türkei weiter zu belasten.

Kein Problem damit, den „Deal“ platzen zu lassen

Für zusätzliches Mißtrauen sorgte auch der Rücktritt des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, der die EU-Beitrittsverhandlungen führte. Nachdem dieser lange Zeit ein enger Vertrauer Erdogans war, kam es in den vergangenen Wochen zu einem Machtkampf der beiden, den Davutoglu nun verlor. Daraufhin trat er auch als Parteichef der Regierungspartei AKP zurück. Neuer Ministerpräsident soll ersten Berichten zufolge Energieminister Berat Albayrak werden – der Schwiegersohn von Erdogan. Damit wäre dieser seinem Wunsch, dem Umbau der Türkei zu einem Präsidialsystem, einen großen Schritt näher gekommen.

Sollte die Entscheidung der EU-Kommission für eine Visafreiheit für türkische Staatsbürger doch noch scheitern oder zumindest in Gefahr geraten, befürchten Politiker, daß Erdogan den Flüchtlingsdeal platzen lassen wird. Das hatte der türkische Präsident, der ohnehin kein Freund dieser Regelung war, bereits mehrfach durchblicken lassen. Die treibende Kraft hierfür war Davutoglu – doch der wurde von Erdogan abserviert.