© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Ein Faß ohne Boden
Griechenland-Studie: Bis Sommer 2015 sind 420 Milliarden Euro an Hilfen geflossen / Euro-Rettungsfonds büßten 43 Milliarden Euro ein
Dirk Meyer

Selten genug erlangt eine wirtschaftspolitische Untersuchung mediale Aufmerksamkeit. Aktualität, Originalität und Informationsgehalt mögen förderliche, aber nicht zwingend notwendige Kriterien sein. Mitunter reicht der richtige Zeitpunkt – die Flüchtlingskrise gerät etwas außer Interesse und der drohende Brexit scheint noch fern: So geschehen Anfang Mai mit einer Studie über die Verwendung der Rettungshilfen für Griechenland.

Die Kernaussagen der Studie „Where 

did the Greek bailout money go?“ der European School of Management and Technology (ESMT) lassen sich so kurz zusammenfassen: Die ersten beiden Griechenland-Hilfsprogramme waren eine Rettung der Banken und Finanzinvestoren. Es fand ein gewaltiger Risiko- und Schuldentransfer von den privaten Gläubigern hin zu den Rettungsfonds, dem Währungsfonds und der EZB statt – letztendlich zuLasten des Steuerzahlers. Im Umkehrschluß: Die Hilfen gingen an den Griechen weitgehend vorbei.

Von den 215,9 Milliarden Euro des ersten und zweiten Hilfsprogramms wurden von 2010 bis zum Sommer 2015 86,9 Milliarden Euro für die Tilgung von Altschulden, 52,3 Milliarden Euro für Zinszahlungen und 37,3 Milliarden Euro für neues Eigenkapital der griechischen Banken aufgewendet. Mit 29,7 Milliarden Euro wurden Zahlungsrückstände bedient. Lediglich 9,7 Milliarden Euro blieben für Mehrausgaben im Staatshaushalt. Ergebnis: Ganze fünf Prozent blieben beim griechischen Bürger hängen.

Richtig an diesen Aussagen ist, daß im Frühjahr 2010 öffentliche und private griechische Schuldpapiere in erheblichem Umfang bei den europäischen Banken lagerten: französische Banken besaßen 53 Milliarden Euro, deutsche Banken 33 Milliarden Euro und britische Banken neun Milliarden Euro dieser Problemkredite. Plötzliche Wertberichtigungen und Überschuldungen einzelner Geldinstitute hätten die Stabilität nicht nur des europäischen Finanzsektors durch die Griechenlandkrise akut gefährdet. Eine nationalstaatliche Bankenrettung – die USA machten es mit der Rettung des Versicherers AIG und der Citigroup-Bank vor – in Kombination mit einem Euro-Austritt Griechenlands hätte erheblich weniger Mittel benötigt. Der Fall wäre bei beherztem Eingreifen der Regierungen abgeschlossen gewesen und hätte anderen mediterranen Staaten als warnendes Beispiel gedient. Die Rettungsfonds und die EZB kauften hingegen den Banken diese Anleihen überteuert ab. Damit wurde das Risiko des Zahlungsausfalls auf den Steuerzahler übertragen.

Euroaustritt, Abwertung und sofortiger Schuldenschnitt

Dies alles ist bekannt. Neu ist hingegen die genaue Auflistung der verwendeten Hilfsgelder, wenngleich diese unvollständig und in der Wertung fragwürdig bleibt. So ermöglichten nicht nur die 9,7 Milliarden Euro Spielraum für Mehrausgaben im Staatsetat, sondern auch die 29,7 Milliarden Euro für Zahlungsrückstände des Staates kamen dem griechischen Wirtschaftskreislauf zugute. Darüber hinaus sind die 215,9 Milliarden Euro zum Ende des ersten und zweiten Hilfsprogramms (Stand: Juni 2015) nur der fiskalische Teil der Hilfen.

Das Gesamtpaket für Griechenland umfaßte jedoch noch drei weitere wichtige Posten. Die Notkredite der griechischen Notenbank im Umfang von zeitweise über 90 Milliarden Euro an die dortigen insolventen Geschäftsbanken waren ohne Gegenwert für das gesamte Eurosystem. Sie ermöglichten jedoch die Kapitalflucht und Barabhebungen der Griechen zum Höhepunkt der Krise, als der Austritt zum Greifen nahe war. Hinzu kommen 27 Milliarden Euro an griechischen Staatspapieren, die die EZB zur Stützung aufgekauft hat, um die Insolvenz des Staates – rechtlich fragwürdig – hinauszuzögern. Schließlich hatte der Target-Saldo ein Minus von etwa 108 Milliarden Euro. Dieser gibt unter anderem das Ausmaß des griechischen Importüberschusses an, der mangels privater Kreditgeber über Kredit der Exportstaaten ohne werthaltige Sicherheiten finanziert wurde. 

Rechnet man Doppelzählungen von Kapitalfluchtgeldern und Targetkrediten in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro heraus, so betrugen die Hilfen für Griechenland zusammen rund 420 Milliarden Euro, wovon immerhin etwa 245 Milliarden Euro den Griechen als Entlastung dienten. Somit kamen im Juni 2015 nicht fünf Prozent, sondern weit über die Hälfte der an Griechenland geflossenen öffentlichen Hilfen den Bürgern in irgendeiner Weise zugute.

Darüber hinaus wird in der Studie das Ausmaß der Schuldenschnitte verkürzt dargestellt. So verloren private Investoren im März 2012 zwar nominal 107 Milliarden Euro (53,5 Prozent), faktisch jedoch durch Zinssenkungen und Laufzeitverlängerung der neu ausgegebenen Anleihen über 70 Prozent ihrer Forderungen. Der Schuldenschnitt öffentlicher Schuldner im November 2012 wird unterschlagen. Hier büßten vornehmlich die Euro-Rettungsfonds über eine Zinssenkung und Laufzeitverlängerungen 43 Milliarden Euro (40 Prozent) ein.

Was schlagen ESMT-Präsident Jörg Rocholl und sein Doktorand Axel Stahmer vor? Einen erneuten Schuldenschnitt, allerdings erst nach echten Strukturreformen: Effizienzsteigerung bei der Steuererhebung und Verwendung öffentlicher Gelder, Aufbau des Grundbuchkatasters, Privatisierungen und ein Konkursgesetz, das Banken bei faulen Krediten eine bessere Restwertsicherung ermöglicht. Doch das kostet Zeit – Zeit, die bis zum drohenden Brexit, dem möglichen nächsten Zahlungsausfall Griechenlands im Juli und neuen Flüchtlingsströmen nicht vorhanden ist. Sicherlich hat Jörg Rocholl, der auch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Finanzministerium ist, noch weitere Ideen, wie es weitergehen könnte. Ein Vorschlag: Euroaustritt, Abwertung der Drachme und sofortiger Schuldenschnitt.

Jörg Rocholl, Axel Stahmer: Where did the Greek bailout money go? (ESMT WP–16–02): esmt.org






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.