© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Ursprung einer fatalen Unordnung
Vor einhundert Jahren teilten Großbritannien und Frankreich mit dem Sykes-Picot-Abkommen den Nahen Osten auf / Konfliktherde bis in die Gegenwart
Wolfgang Kaufmann

Am 29. Oktober 1914 trat das Osmanische Reich als Verbündeter der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg ein. Kurz darauf rief Sultan Mehmed V. Resad, der gleichzeitig auch als Kalif aller sunnitischen Muslime fungierte, die letzteren zum Dschihad gegen die Briten, Franzosen und Russen auf. Das veranlaßte England dazu, nun seinerseits an den antiosmanischen Nationalismus der Araber zu appellieren, um einen Aufstand gegen das Regime in Konstantinopel zu provozieren.

Angeführt werden sollte die Rebellion vom Emir des Hedschas und Groß-Scherif von Mekka, Hussein ibn Ali, welcher mit Begeisterung vernahm, daß London vorschlug, das Kalifat wieder in arabische Hände zu legen. Außerdem hoffte er, nach der Vertreibung der Osmanen Herrscher eines nahöstlichen Großreiches zu werden. Dies teilte er auch dem Hochkommissar des britischen Protektorats Ägypten, Henry McMahon, im Verlaufe des konspirativen Briefwechsels zwischen den beiden mit, der sich ab Juli 1915 entspann. Tatsächlich schrieb der Engländer vier Monate später an Hussein, seine Regierung sei bereit, „die Unabhängigkeit der Araber in den Gebieten anzuerkennen, deren Grenzen der Scherif vorgeschlagen hat“.

Ohne Rücksicht auf religiöse oder ethnische Strukturen 

Dabei planten die Briten aber mittlerweile schon längst, sich selbst in den Besitz des Erbes des „kranken Mannes am Bosporus“ zu bringen, obwohl Experten entschieden davon abrieten, das Osmanische Reich zu zerstückeln, weil dies den gesamten arabischen Raum destabilisieren würde. Grund, alle derartigen Warnungen in den Wind zu schlagen, war zum einen der Wunsch, möglichst jede Region zu kontrollieren, welche auf dem Weg vom Mittelmeer nach Indien lag, zum anderen ging es auch damals schon um den Besitz von Ölquellen. Schließlich fuhren immer weniger britische Kriegsschiffe mit Kohle, weshalb Erdöl nun zum strategischen Rohstoff avancierte.

Allerdings meldete Frankreich ebenfalls Ansprüche auf den „Fruchtbaren Halbmond“ an – und die konnte London nicht einfach ignorieren, da man schließlich Schulter an Schulter gegen einen gemeinsamen Feind kämpfte. „Die Freundschaft Frankreichs ist uns zehn Syrien wert“, versicherte der britische Premierminister damals silberzüngig. Deshalb traten Colonel Mark Sykes vom War Office und François Georges-Picot, der französische Generalkonsul in Beirut, im November 1915 in Verhandlungen ein, um zu einem Geheimabkommen über die Aufteilung der Gebiete des Osmanischen Reiches zu gelangen, die zwischen der Levante und dem Persischen Golf lagen. Und die grundsätzliche Einigung hierüber wurde auch recht schnell erzielt: Sie erfolgte bereits am 3. Januar 1916, wonach sich die formelle Unterzeichnung jedoch bis zum 16. Mai des gleichen Jahres hinzog. Das war drei Wochen bevor die nichtsahnenden Araber mit ihrem Aufstand begannen – natürlich in der Hoffnung, daß der ihnen den verhießenen eigenen Staat beschere.

Dabei hatten Sykes und Picot in ihrem „Asia-Minor-Abkommen“ ausgehandelt, daß das Gebiet südlich der Linie von Kirkuk bis Haifa an die Briten fallen solle, während der Raum nördlich davon Frankreich gebühre. Deshalb verblieb dem Hussein-Clan nach dieser Aufteilung von 1,5 Millionen Quadratkilometern mit 20 Millionen Einwohnern letztlich nur noch die Möglichkeit, in Teilregionen Vasallenstaaten unter der Oberhoheit einer der beiden vertragschließenden Mächte zu gründen, womit die späterhin nach den beiden Unterhändlern benannte Vereinbarung einen eklatanten Verrat an den arabischen Verbündeten der Entente darstellte. Außerdem sorgten Großbritannien und Frankreich mit ihrer Abmachung aber auch für diverse zukünftige Konflikte, weil sie sich bei der Grenzziehung, die den Grundstein für die späteren „Nationalstaaten“ Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien, Irak und Libanon legte, zwar um eine relativ „gerechte“ Verteilung der Wasservorkommen und Ölquellen bemühten, jedoch keine Rücksicht auf gewachsene religiöse und ethnische Strukturen nahmen.

Während Husseins Söhne Abdallah und Faisal mit Unterstützung des britischen Agenten Thomas Edward Lawrence im Raum um Mekka und Medina gegen die Osmanen losschlugen, traten zusätzlich auch Rußland und Italien dem Sykes-Picot-Abkommen bei: Das Zarenreich erhielt dafür Armenien und Teile Kurdistans zugesprochen, während Rom sich den Anspruch auf die ostägäische Inselgruppe des Dodekanes und ein Stück von Südwest-Anatolien sicherte. 

Doch damit nicht genug. Kaum daß die Entente Einigkeit über das Ausmanövrieren der Araber erzielt hatte, garantierte der britische Außenminister Arthur James Balfour den Zionisten am 2. November 1917 zusätzlich noch „die Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk“, um den zu erwartenden Protesten der USA vorzubeugen, wenn das Sykes-Picot-Abkommen irgendwann publik werden sollte.

Das geschah dann tatsächlich schneller als gedacht: Kurz nach der russischen Oktoberrevolution publizierte die neue bolschewistische Regierung den Text des geheimen Abkommens am 23. November 1917 in den Zeitungen Prawda und Iswestija, woraufhin große Empörung unter den Arabern ausbrach. Die sahen sich nun als Opfer einer Verschwörung, womit im Nahen Osten ein Ur-Mißtrauen gegenüber dem Westen entstand, das noch heute Wirkung zeitigt und auch die Kämpfer des Islamischen Staates umtreibt, dessen erklärtes Ziel nicht zuletzt darin besteht, die von Frankreich und Großbritannien am Verhandlungstisch gezogenen Grenzen zu annullieren.

London und Paris bestanden 1918 auf ihrer Kriegsbeute

Um die fatalen politischen Auswirkungen des Sykes-Picot-Abkommens zu mildern und die Fiktion von der arabisch-britischen Waffenbrüderschaft aufrechtzuerhalten, veröffentlichten London und Paris im Januar 1918 eine Deklaration, in der sie allen „von den Türken unterdrückten Völkern“ in schwammigen Formulierungen die Souveränität nach dem Sieg über Konstantinopel versprachen. Das machte den Arabern wieder Mut. So rückte Faisal am 1. Oktober 1918, also kurz vor der osmanischen Kapitulation, in Damaskus ein – hoffend, nun doch noch Herrscher über das künftige unabhängige „Groß-Syrien“ werden zu können. 

Aber Großbritannien und Frankreich bestanden auf ihrer Kriegsbeute und gerieten dann auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 sogar noch über die Modalitäten der Verteilung – es ging vor allem um neuentdeckte Ölquellen – in Streit. Das wiederum bewog den US-Präsidenten Woodrow Wilson, der „Sykes-Picot“ zunächst für den Namen einer neuen Teesorte gehalten hatte, zwei Beauftragte in den Nahen Osten zu entsenden, welche herausfinden sollten, wie sich die Völker der Region denn eigentlich ihre Zukunft vorstellten. Dabei stießen die Emissäre nur auf dezidierte Gegner des Sykes-Picot-Abkommens und der Balfour-Deklaration, was aber in Europa am Ende niemand zur Kenntnis nehmen wollte.

Dem folgte eine Einigung zwischen Paris und London, das hoffte, Syrien möge recht bald das „Kuckucksei im Nest der Franzosen“ werden, und daher seine Truppen freiwillig abzog. Dies nahm Faisal zum Anlaß, sich am 8. März 1920 vom Nationalkongreß in Damaskus zum König von Syrien ausrufen zu lassen. Den Titel führte er jedoch nicht lange. Bereits im Folgemonat nämlich beschlossen die europäischen Siegermächte auf der Konferenz von San Remo, Großbritannien das Mandat für Mesopotamien (später Irak) und Palästina (später Israel und Jordanien) zu übertragen, während Frankreich nochmals den Zuschlag für Libanon und Syrien erhielt.

Hierdurch war natürlich kein Platz mehr für einen König Faisal: Deshalb wurde er ultimativ aufgefordert, sich aus Damaskus zurückzuziehen, wonach die Franzosen in Syrien einrückten und am 24. Juli 1920 die Aufsicht über das Mandatsgebiet übernahmen. Die Regelungen von San Remo wurden im August 1920 im Diktatfrieden von Sèvres zwischen der Entente und dem Osmanischen Reich bestätigt sowie dann auch 1922 seitens des Völkerbundes international verbindlich legitimiert. Im März 1921 schlug der britische Kolonialminister Winston Churchill auf der Konferenz von Kairo vor, Faisal wenigstens mit dem Königstitel des neugeschaffenen Staates Irak zu versorgen, was dieser im August 1921 auch wurde. Zuvor wurde allerdings festgelegt, daß die strategisch wichtige und ölreiche Region am Persischen Golf – das spätere Kuwait – als direktes britisches Protektorat abgetrennt wurde. Ferner sicherte sich Großbritannien weiterhin wirtschaftlichen Einfluß und Militärstützpunkte in Faisals Königreich Irak, welches erst 1930 formell von Großbritaanien unabhängig wurde.

Die politischen Verwerfungen, die diese Politik nach sich zog, dominieren lange nach dem Rückzug Großbritanniens und Frankreichs aus der Region die Konflikte im Nahen Osten.