© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Kultobjekt und Beutegut
Der russische Philosoph Alexander Dugin interpretiert Martin Heidegger mit bemerkenswerter Deutung
Robert Rielinger

Der russische Philosoph Alexander Dugin liest Heideggers Philosophie nicht als „harmlose Hermeneutik“, sondern – wie das in den siebziger Jahren schon marxistisch versucht wurde – politisch als „Notstandsmaßnahme der Metaphysik“ (Cardorff) oder „Philosophie der Praxis“ (Goldmann). Mit imperialer Geste beansprucht Dugin für „den Osten“ die Erbschaft dieses Werks: „Heideggers Neubeginn kann nicht den Westen ansprechen, daher richtet er sich an uns.“ Dugins Arbeit ist trotz dieses Anspruchs lesenswert, da sie entgegen der westlichen, zunehmend verfolgerischen Rezeption des Philosophen einen frischen Blick auf dessen Werk ermöglicht, indem sie dieses zunächst respektvoll paraphrasiert.

Für Dugin ist Heideggers Ansatz eine Auseinandersetzung mit dem „ersten Anfang“, dem Irrtum der Vorsokratiker, „fundamentalontologisches Seyn“ nur als Attribut des Seienden, der Natur, denken zu können: „Beings replace Being (Seyn)“. Dugin gliedert Heideggers Rückholungsversuch des „Seyns“ in drei Phasen. Die fundamentalontologische Grundlegung mit der Unterscheidung von Sein und Dasein erfolgt in den zwanziger Jahren mit „Sein und Zeit“. In der „Ereignis-Philosophie“ (1936 bis 1946) wird Sein zu „Seyn“, das „Geviert“ zum Entfaltungsraum der „Seynsgeschichte“, für die Heidegger unter politischer Implikation den „anderen Anfang“, „das Ereignis“ erhoffte.

Gegenseitige Ergänzung in indoeuropäischer Tradition

Heideggers Nachkriegsphilosophie ist nach Dugin hermeneutisch verklausulierte Selbstzensur dieser „Ereignisphilosophie“. Konträr zur aktuellen westlichen Heidegger-Rezeption kommt dieses Phasenmodell ohne nationalsozialistischen Unfall aus. Vielmehr schätzt es die zweite Werksphase als zentral ein. Heidegger besteht in der „Ereignis“-Phase gegenüber dem Dreischritt einer prozessualen Geschichtsdialektik auf einem räumlichen „Geviert“ („nicht drei, sondern vier“) als kategorialem Gerüst der „Seyns“-Dynamik. Archaisch ist dieses „Geviert“ polar zwischen „Himmel, Erde, Gott, Mensch“ aufgespannt als Kontinuum, in dem „Seynsgeschichte“ sich entfaltet.

„Seynsgeschichte“ manifestiert sich historisch in Spannungen zwischen den Polen des „Gevierts“ als konfliktreiche Menschheitsgeschichte. Sie manifestiert sich als Denkbewegung mit größerer oder minderer Nähe zum „Seyn“ und schließlich in wechselnden Subjekten, die den „anderen Anfang“ aufs neue wagen. Dugin betont zwar die Übereinstimmung zwischen Heideggers „Gevierts“- und „Seyns“-Dynamik mit zeitgenössischen Ansätzen von Carl Gustav  Jung („Trinitas“, „Quaternatio“) und Julius Evola („4 Zeitalter“). Er vermeidet aber die naheliegende Klassifikation der aufgezeigten Gemeinsamkeit als indoeuropäisch, obwohl Georges Dumézil das bereits einleuchtend getan hat.

„Wenn eine Rasse die Berührung mit dem, was allein Beständigkeit hat und geben kann – mit der Welt des Seyns – verloren hat, dann sinken die von ihr gebildeten kollektiven Organismen, welches immer ihre Größe und Macht sei, schicksalhaft in die Welt der Zufälligkeit herab.“ Dieses jüngst aufgetauchte Exzerpt Heideggers (FAZ vom 30.Dezember 2015) aus Evolas „Erhebung wider die moderne Welt“ (1935, bei Evola: „Sein“ statt „Seyn“) zeigt: Heidegger beschäftigte sich mit der indoeuropäischen Mythologie Evolas und unterstellte wechselnde Subjekte der „Seynsgeschichte“, tat dies aber im indoeuropäischen Bezugsrahmen.

So bestätigt auch folgende Passage aus der „Geschichte des Seyns“ (Heidegger Gesamtausgabe, Band 69) nicht –  entgegen Dugin – einen orientalischen „Osten“ als alleinigen Adressaten eines „anderen Anfangs“: „Die Geschichte der Erde der Zukunft ist aufbehalten im noch nicht zu sich befreiten Wesen des Russentums. Die Geschichte der Welt ist aufgetragen der Besinnung der Deutschen.“ Das klingt eher nach gegenseitiger Ergänzung in indoeuropäischer Tradition. Dugins anregende, bisweilen ehrfürchtige Heidegger-Paraphrase ist also leider durch eine orientalische Beraubungsabsicht schwer kontaminiert. Gegen letztere ist als Antidot weiterhin Spenglers „Das Doppelantlitz Rußlands und die deutschen Ostprobleme“ (1922) zu empfehlen.

Alexander Dugin: Martin Heidegger. The Philosophy of Another Beginning. Washington Summit Publishers, Washington 2014, gebunden, 472 Seiten, 27,60 Euro