© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Grüße aus Riga
Nicht unser Fest
Christian Rudolf

Die Letten haben uns Deutschen bereits eine Erfahrung voraus, die uns noch blühen wird: in die Minderheit geraten zu sein. Über die Hälfte der Einwohner der Hauptstadt sind gar keine Letten. Ihren 46 Prozent stehen 40 Prozent ethnische Russen gegenüber, dazu kommen erkleckliche Anteile von in der Regel auch Russisch sprechenden Weißrussen und Ukrainern – Ergebnis sowjetischer Siedlungspolitik, die das kleine Baltenland massiv überfremdete. Beim Flanieren auf der Esplanade oder am Stadtkanal, im O-Bus, auf dem Zentralmarkt, beim Friseur – überall Russisch. Und obwohl Letten und Russen doch nun schon so viele Jahrzehnte miteinander im Land auskommen müssen, ist man sich herzlich fremd geblieben, lebt gleichgültig nebeneinander her.

Wie kühl und abgeneigt das Verhältnis ist, zeigt wie unter der Lupe der Tag des Kriegsendes. Den feiert Rußland traditionell mit viel Aplomb am 9. Mai, und so auch die russische Gemeinschaft Rigas. Als ich erklärte, mir das Spektakel im Siegespark auf dem linken Düna-Ufer angucken zu wollen, ernte ich ungläubige Blicke. Nur nach viel Überredung begleitet mich mein lettischer Gastgeber Janis. Widerwillig. Allein wäre er nie hingegangen. „Das ist nicht unser Fest“, stellt er knapp fest.

An reichgedeckten Klapptischen sitzen alte Damen und singen gemeinsam Kriegslieder.

An der Hauptstraße am Park ein Blumenstand neben dem anderen. Buchstäblich die halbe Stadt ist auf den Beinen. Herausgeputzte Russen aller Altersschichten legen zu Zehntausenden rote Nelken unter der 79 Meter hohen Siegessäule mit dem Sowjetstern ab. Russische Ansprachen, russische Estradenmusik, junge Russen in sowjetischen Felduniformen, ältere ordenbehangen; Freßbuden, so weit das Auge reicht. Fast jeder hat sich das Sankt-Georgs-Band angesteckt. An reichgedeckten Klapptischen sitzen alte Damen und singen gemeinsam Lieder aus dem Krieg. Volksfeststimmung. Man ist unter sich. Wäre an den Masten nicht die lettische Flagge aufgezogen, man wähnte sich in Rußland. Janis hält sich abseits und die Arme vor der Brust verschränkt. Sichtlich unwohl fühlt er sich. An einem der Stände hat er einen Bekannten entdeckt. Der betreibt in der Innenstadt eine Kneipe und schenkt dieses Jahr erstmals beim Siegesfest Getränke aus. Der Verkauf laufe nicht schlecht, sagt er zu mir, und am Abend würde es hier zum Rockkonzert ja erst noch richtig voll. Nachher nimmt mich Janis beiseite. Er ist sauer auf seinen Kumpel. Weil der mit den Russen Geschäfte macht. „In dessen Kneipe gehe ich nicht mehr.“