© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Morbidität und Amüsement
Rückkehr ins frühe 20. Jahrhundert: Eine Ausstellung im Münchner Literaturhaus gibt Einblicke in Thomas Manns Roman „Zauberberg“
Felix Dirsch

Seit Botho Strauß’ gleichnamigem Essay kennen wir die Lektüre des „letzten Deutschen“: Er „liest vielleicht Conrad Ferdinand Meyer oder den ‘Zauberberg’ zum dritten Mal in seinem Leben. Er ist süchtig nach deutscher Dichtersprache.“ Was Paul Valéry herausstellt, erfüllt kein deutscher Literat des 20. Jahrhunderts in einer Thomas Mann vergleichbaren Weise: „Die Dichtung hat die Aufgabe, die Sprache einer Nation in einigen vollendeten Anwendungen zu zeigen.“

Das Münchner Literaturhaus hat bereits mehrere Romane Manns zum Gegenstand von Ausstellungen gemacht. Über den „Zauberberg“ bietet sich eine weitere förmlich an. Der Autor betrieb für sein Werk detailgenaue Studien, die dafür verantwortlich sind, daß der Text nicht nur als sprachliches Kunstwerk gilt, sondern auch den Stand von damaliger Forschung und medizinischer Praxis spiegelt. Mann interessierte sich für die Literatur über Lungenkrankheiten ebenso wie für die technischen Möglichkeiten, entsprechende Leiden zu kurieren oder wenigstens zu lindern.

Einige dieser Objekte kann der Besucher bestaunen. Mehr noch: Die Präsentation erzeugt eine Atmosphäre, die das Gefühl vermittelt, selbst Gast einer der berühmten Schweizer Heilanstalten im frühen 20. Jahrhundert zu sein. Vom Davoser Sanatorium erhielt Mann Kunde, seit seine Frau Katia einige Zeit als Patientin dort verbracht hatte. Später reifte der Plan, die Mischung aus Morbidität und Amüsement als charakteristisch für die unmittelbaren Vorkriegsjahre darzustellen. Viele fotografische Aufnahmen der damaligen Zeit liefern einen Eindruck vom Leben der Kranken, ebenso Möbelstücke, die Kleider der Krankenschwestern, die Krankenliegen, Grammophone und vieles mehr. Gerade die Freizeit war für den Helden des „Zauberbergs“, Hans Castorp, der sich über mehrere Jahre hinweg der strapaziösen Behandlung unterwerfen mußte, begreiflicherweise wichtig, lernte er doch seinen Kurschatten, die schöne Russin Clawdia Chauchat, kennen.

Politische Dispute der Zeit zum Leben erweckt

Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Medizintechnik: Vom Fieberthermometer über das Stethoskop bis zum Röntgenapparat und der auf den ersten Blick kryptisch wirkenden Pneumothorax-Maschine – vieles gibt einen Einblick in eine damals hochmoderne Welt, die der Tuberkulose den Kampf ansagte. Beim Anblick dieser Geräte – auf den Fotografien sind sie zusammen mit Kranken zu sehen – stellt sich dem heutigen Betrachter freilich nicht das Empfinden ein, das Castorp überkommen hatte: nämlich, daß Krankheiten „den Menschen fein und klug und besonders machen“.

Zu den jeweiligen Exponaten finden sich Auszüge von Textstellen, die belegen, wie Mann den betreffenden Gegenstand literarisch verarbeitet hat. Ebenso werden Standardwerke einiger naturwissenschaftlicher Disziplinen, etwa der Biologie, gezeigt, die der enorm gebildete Literat für seine Arbeit heranzog.

Spannend sind darüber hinaus die politischen Dispute der Zeit, die die Ausstellung zum Leben erweckt. Die beiden „Erzieher“ des jungen Ingenieurs, der religiöse Heißsporn Naphta und der aufgeklärt-kühle Settembrini, liefern sich erfrischende Dialoge über die rechte Weltanschauung. In Ergänzung zu den Originalstellen erhellt die Ausstellung einige Hintergründe. Mann verweist auf einen heute kaum bekannten Wissenschaftler, den Soziologen Franz Carl Müller-Lyer. Er verfaßte einen Beitrag über die „Soziologie der Leiden“. Settembrini bezieht sich im „Zauberberg“ auf diesen Gewährsmann. Einer der Begleittexte geht auf die immer wieder diskutierte Frage ein, ob Georg Lukács das reale Vorbild für Naphta darstellt. Der ungarische Philosoph konnte sich bekanntlich in dieser Figur nicht wiedererkennen.

Diese politischen Teile vermitteln auch einen Eindruck von Manns Arbeit an den „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Dieses von vielen Anhängern des Nobelpreisträgers verschmähte Werk aus seiner konservativ-monarchistischen Periode wird von ihm selbst als wesentlich für den Abschluß des „Zauberbergs“ bezeichnet, verschaffte es ihm doch Entlastung von den ersten, bereits niedergeschriebenen Partien des „Zauberbergs“.

Zum Abschluß der einzelnen Stationen ist ein Tondokument zu hören, auf dem Katia Mann Ereignisse und Begegnungen im Umfeld der Romanentstehung schildert. Am Ende der Erzählung wird das folgende Unglück vorweggenommen: Das Sperrfeuer peitscht „heulend, spritzend und flammend das weite Sturzackerland“. Auch dazu finden sich Fotografien.

Die Ausstellung will dazu anregen, Thomas Manns „Zauberberg“ wieder (oder erstmals) zur Hand zu nehmen. Das gelingt ihr vortrefflich. 

Die Ausstellung ist bis zum 26. Juni im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, täglich von 11 bis 19 Uhr, Sa./So. 10 bis 18 Uhr, zu sehen. Der Eintritt kostet 5 Euro. Ein reich bebildertes Heft zur Ausstellung ist für 6 Euro erhältlich. Telefon: 089 / 29 19 34 - 0

 www.literaturhaus-muenchen.de