© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Der Flaneur
Schattenspiel der Nacht
Sebastian Hennig

Bei schönstem Frühsommerwetter versammelt sich eine kleine Gemeinde im Museumskino. Das neunzig Jahre alte Stummfilm-Melodram ist ein Meisterwerk. Murnau debütierte in den USA mit der Verfilmung einer Erzählung von Sudermann und erhielt dafür gleich die ersten drei Oscars, die je verliehen wurden. Eine begeisterte Filmfreundin hält darüber eine derart abschweifende Einführung, daß wir schon befürchten, den Film nicht mehr zu Gesicht zu bekommen.

Dann rattert doch noch die vergröberte 16-mm-Kopie durch den Projektor, der einst hier im Haus hergestellt wurde. Ich kann erkennen, wie das Mädchen neben mir sich während der Handlung einige Male verstohlen die Tränen mit dem Taschentuch von Augen und Wangen wischt. Meine Tochter befindet sich in dem Alter, wo junge Leute nur noch widerwillig ihre Eltern zu Veranstaltungen begleiten. Heute bereut sie es nicht. Pianist und Geiger, die zu den bewegten wie bewegenden Bildern improvisiert haben, erhalten stellvertretenden Applaus für die dahingegangenen Meister dieses Werkes.

Aus der schwarzweißen Zauberwelt kommend, schwingen wir uns begeistert auf die Räder.

Aus der schwarzweißen Zauberwelt treten wir hinaus in eine zauberhafte Nacht. Begeistert schwingen wir uns zur Heimfahrt auf die Räder. Eine Ecke weiter steht ein Polizeiwagen am Straßenrand. Dann noch einer. Es werden immer mehr Posten. Schließlich kommen sie auf Motorrädern entgegen. Also handelt es sich wohl eher um den Besuch eines Politikers als um den Versuch eines Attentats. Doch weit gefehlt. Hinter dem letzten Polizeiauto schallt aus einem Fahrzeug laute rhythmische Musik. Daran schließt sich eine lange Schlange von Menschen an, die hintereinanderher rollen. Ab und an steht ein Posten mit Leuchtstab in der Hand. Unversehens fahren wir neben und gegen eine Kette von Nacht-Skatern. Die Reihe dunkler Schatten reißt nicht ab. Dieses Rollkommando wirkt unheimlich. Meine Tochter hat dieses Vergnügen schon geteilt. Sie muß jetzt zugeben, daß es von außen gespenstisch aussieht. Sobald der rollende Wurm versiegt, umfängt uns wieder die nächtliche Straße.