© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Mehr Macht für den türkischen Präsidenten Erdogan
Rubikon überschritten
Marc Zoellner

Eines muß man Erdogan lassen: Wie kein zweiter spielt er derzeit mit offenen Karten ein brisantes politisches Blatt – und entscheidet dennoch jede Partie für sich. So auch im Umgang mit Europa. Zwar mag Angela Merkels Kritik an der Amtsführung des türkischen Präsidenten ehrlich gemeint sein. Erreicht hat sie damit nichts. Zu fest sitzt Erdogan mittlerweile im Sattel. Sein bester Trumpf in der Hand: Die Abhängigkeit einer ganzen Reihe europäischer Regierungen von seinem Wohlwollen in der Flüchtlingsfrage.

Die Transformation der Türkei hin zu einem antidemokratischen Staat mit der AKP als Staatspartei, scheint damit kaum noch aufzuhalten zu sein. Mit der Ausschaltung seines Parteikollegen Ahmet Davutoglu bestimmt Erdogan nunmehr unbeschränkt den innerparteilichen Kurs und den der Regierung. Den eskalierenden Kurdenkonflikt weiß er wiederum auszunutzen, um die Oppositionsparteien mit fadenscheinigen Argumenten entweder gefügig zu machen oder aber, so wie die prokurdische HDP, staatlich zu verfolgen. Mit der Verfassungsänderung vom vergangenen Freitag wurde das fragile Machtgleichgewicht der türkischen Republik zwischen Regierung und Opposition nicht mehr nur empfindlich gestört, sondern über Nacht quasi aus den Angeln gehoben. Erdogan hat damit den Rubikon von der parlamentarischen Demokratie zur Präsidialdiktatur überschritten.