© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

„Ganz großer Unsinn“
Ist „Burnout“ nur eine Mode? Nein, warnt Streßmediziner Stephan Ahrens: Immer mehr Deutsche bekommen den Alltagsstreß nicht in den Griff – auch weil wir traditionelle Werte aufgegeben haben
Moritz Schwarz

Herr Professor Ahrens, „Burnout“ – das gibt es gar nicht!

Stephan Ahrens: Oft behauptet – würde ich aber klar widersprechen.

Warum?

Ahrens: Die Symptome, die Burnout beschreibt, sind keineswegs eingebildet.

Mal ehrlich, „gibt“ es Burnout nicht nur deshalb, weil man sich darauf geeinigt hat? 

Ahrens: Ach, wissen Sie, im Grunde gibt es Diagnosen ja sowieso nicht – sie sind immer Gegenstand einer Übereinstimmung.

Na also! 

Ahrens: „Na also“? Was bitte wollen Sie beweisen? Nein, es ist dennoch absolut sinnvoll, bestimmte Leidensphänomene zu begrifflich faßbaren Kategorien zusammenzufassen. 

Ist Burnout nicht einfach eine modernisierte Variante der Midlife-Crisis? 

Ahrens: Nein, die Midlife-Crisis ist an die „Mitte“ des Lebens gekoppelt, der Burnout kann einen in jedem Lebensalter ereilen. Außerdem ist die Midlife-Crisis eine Sinnkrise, der Burnout dagegen eine Leistungskrise.

Burnout ist keine Mode?

Ahrens: Doch, durchaus. Dennoch hat der Begriff seine Berechtigung, weil er Bewußtsein für eine Problemlage schafft.

Ist Burnout letztlich nichts anderes als die flotte Variante der „guten alten“ Depression oder depressiven Verstimmung?

Ahrens: Viele Symptome des Burnout sind in der Tat mit diesen gleich. Dennoch ist Burnout noch keine Depression.  

Wenn die Symptome gleich sind, was ist dann der Unterschied?

Ahrens: Die Intensität: Erstens treten beim Burnout nicht unbedingt alle Symptome der Depression auf. Zweitens sind sie noch nicht verfestigt. Das ist schon entscheidend. Die Depression ist ein eindeutiges medizinisches Phänomen, der Burnout nicht. 

Dann ist Burnout keine Krankheit? 

Ahrens: Nein.

Sondern?

Ahrens: Burnout ist ein Zustand.

Was bedeutet?

Ahrens: Burnout ist eine Befindlichkeitsstörung, ein andauerndes Mißbefinden, das in einer Krankheit münden kann, wenn es nicht in einer gewissen Zeit überwunden wird. 

„In einer gewissen Zeit“? Wie lange? 

Ahrens: Das ist individuell. Allgemein aber gilt, wer da nicht rechtzeitig herauskommt, droht tatsächlich medizinisch krank zu werden, etwa eine echte Depression zu entwickeln.

Wenn es keine medizinische Eindeutigkeit gibt, wie kann man dann definieren, welches Mißbefinden normale Stimmungsschwankung oder vielleicht charaktertypisch ist und welches unter Burnout fällt?

Ahrens: Natürlich ist das sehr subjektiv. Es gibt Menschen, die sind kurz davor, von der Brücke zu springen, und meinen dennoch, daß es ihnen „doch noch ganz gut“ geht. Und anderen hüpft sozusagen nur ein Maikäfer auf den großen Zeh und schon bricht Zermürbung und Verzweiflung aus. Dennoch: Wenn sich Mißbefinden chronifiziert, ist eine andere Qualität erreicht als die normaler Stimmungsschwankungen. Wenn Sie etwa spüren, daß Sie unter einem beständigen Energieverlust und Verlust ihrer psychischen Lebensqualität leiden, wenn Sie von Monat zu Monat mehr Kraft brauchen, um die gleiche Leistung zu erbringen wie früher und wenn negative Stimmungen immer weniger weichen wollen, ist ein Burnout als Ursache gut möglich. Typische Symptome sind Erschöpfung, Unruhe, Unzufriedenheit, Schlafstörungen.

Ganz wichtig, sagen Sie, sei das sogenannte „Urlaubssymptom“. Was ist das?

Ahrens: Fährt jemand zum Beispiel drei Wochen in Erholungsurlaub, kommt aber dennoch mit dem Gefühl zurück, sich kein bißchen erholt zu haben, dann signalisiert dieses „Urlaubssymptom“ ein wichtiges Warnzeichen.

Erschöpfung oder Unruhe sind ebenso typische Symptome einer Übersäuerung, die durch Streß und unsere typische – zum Beispiel eiweißlastige – Ernährung ausgelöst wird. Leiden viele vielleicht gar nicht unter Burnout, sondern an einem übersäuerten Organismus, wissen dies aber nicht, weil mit diesen Symptomen stets zunächst Burnout verbunden wird?

Ahrens: Sicher mag es da auch Überschneidungen geben. Aber ich glaube, Sie verwechseln Koinzidenz und Kausalität. Gerät jemand in einen Burnout, kann er gleichzeitig auch übersäuert sein. Daraus aber eine Kausalität zu machen – also zu folgern, Ursache der Symptome sei eigentlich die Übersäuerung –, finde ich fragwürdig. Da die meisten von uns so essen und die meisten auch Streß haben, müßten wir ja alle an Übersäuerungssymptomen leiden. Das ist aber nicht der Fall. Übrigens können Sie, wenn Sie Zweifel haben, Ihr Säure-Basen-Verhältnis im Körper messen lassen.

Kann jeder Burnout bekommen oder muß man dafür eine Disposition haben?

Ahrens: Gut, daß Sie diese Frage stellen! Denn zumeist wird nur auf das Umfeld der Leute geachtet. Tatsächlich aber beobachten wir, daß gewisse Eigenheiten einen Burnout begünstigen können. So sind etwa Menschen, die perfektionistisch sind oder solche, die Schwierigkeiten haben, sich abzugrenzen – also etwa auch mal nein zu sagen – oder aber, die besonders abhängig vom Lob anderer sind, in erhöhtem Maße anfällig für Burnout; um nur drei der wichtigsten Dispositionen zu nennen. Wer es genau wissen will, kann übrigens auch gerne in unserem Institut seinen Risikoko-effizienten bestimmen lassen. 

Ist so etwas zuverlässig?

Ahrens: Natürlich. Allerdings, auch wer nicht disponiert ist, aber unter enormem Druck lebt, kann Burnout bekommen. Während Menschen, die disponiert sind,  – aber, vielleicht auch weil sie darum wissen, bewußt leben und alles richtig machen – verschont bleiben können. Disposition spielt eine Rolle, das Umfeld aber eben auch. Burnout ist die Folge eines Zusammenspiels beider Bereiche. 

Was tue ich, wenn ich den Verdacht habe, unter Burnout zu leiden?

Ahrens: Zunächst sollten Sie mit einer Person Ihres Vertrauens darüber sprechen und hören, wie diese die Sache einschätzt. Die nächste Stufe wäre der Besuch beim Hausarzt oder bei einem Burnout-Coach. Bei diesem kann man eine einmalige Erstberatung buchen oder aber auch mehrere Sitzungen. Dabei unbedingt darauf achten, daß der Coach irgendeine Form qualifizierter Ausbildung vorweisen kann! Übrigens: Die Kasse bezahlt den Coach meist nicht – aber immer mehr Firmen tun das. Sprechen Sie mit Ihrem Chef! Alternative: sich Rat beim Facharzt für Streßmedizin oder beim Psychotherapeuten holen.

Ich brauche keine Hilfe! Ich bekomme das selbst in den Griff!

Ahrens: Das kann funktionieren, je nachdem wie fortgeschritten das Problem ist und wieweit Sie es durchschauen. Aber Vorsicht: Stellt sich keine Besserung ein, sollte man den Mut haben, über seinen Schatten zu springen und sich professionellen Rat zu holen.    

Warum nimmt das Phänomen eigentlich so zu? Warum ist Burnout ein Problem unserer Zeit?

Ahrens: Weil sich unsere Lebensverhältnisse verändert haben, der Druck auf uns – vor allem im Beruf – hat signifikant zugenommen. Ebenso wie vor allem der mediale Streß, aber auch der Druck im Alltag, in dem es die klassische Arbeitsteilung – entweder Haushalt und Kinder oder Büro – immer weniger gibt. 

Allerdings hatten die Deutschen früher doch deutlich mehr Arbeitszeit – Stichwort: Samstagsarbeit –, weniger Urlaubstage, und in den Firmen herrschten weit strengere Oben-Unten-Verhältnisse und soziale Normen. So viel Freizeit, Freiheit, Flexibilität und flache Hierarchien wie heute gab es doch noch nie. 

Ahrens: Ach wissen Sie, das ist nach meiner Ansicht das gleiche wie mit der antiautoritären Erziehung: Dabei kommt nur Murks heraus. In einer klaren Hierarchie und klaren Aufgabendefinition liegt eben auch eine gewisse Sicherheit. Ich halte dieses vorgebliche Laissez-faire – „Du“ zum Chef zu sagen und so weiter – im Grunde für oberflächlich und vor allem für eine Methode, den Leuten letztlich nur noch mehr Arbeit und Verantwortung aufzubürden. Und was die Freizeit angeht: Nun, tatsächlich wird von vielen Arbeitnehmern heute doch erwartet, auch in der Freizeit verfügbar zu sein, Arbeit mit nach Hause zu nehmen, die Dinge auch zu Hause etwa online im Blick zu behalten. In den USA richten manche Firmen ihre Büros sogar schon wie Wohnzimmer ein. Der Unterschied zwischen privater und beruflicher Welt verwischt immer mehr. Die klareren Verhältnisse früher waren im Grunde dem Menschen zuträglicher.

Dann aber unterläge unsere Gesellschaft einer Selbsttäuschung. Denn unser Selbstverständnis ist doch: Früher waren wir gesellschaftlich autoritär „geknechtet“, heute dagegen sind wir frei und selbstbestimmt. 

Ahrens: Tut mir leid, aber dem kann ich mich nicht anschließen, das halte ich für ganz großen Unsinn. 

Aber stellen Sie damit nicht unser Selbstverständnis seit 1968 in Frage?

Ahrens: Das will ich mir nicht anmaßen. Aber ich schaue auf den einzelnen und stelle fest, daß es vielen psychisch schlechter geht als das noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war. 

Früher war Familie und nicht das Junggesellendasein die Regel. Vereine, Kirchengemeinden, Nachbarschaften und Dorfgemeinschaften waren im Vergleich zu heute noch relativ verbindlich und gaben Halt. Spielt die Auflösung dieser eigentlich als konservativ und spießig verschrienen Institutionen dafür auch eine Rolle?

Ahrens: Ja, durchaus, denn all das sind haltgebende Strukturen. Ich kann deren Effekt an meinen Patienten gut beobachten. Wenn sich etwa zum beruflichen Streß auch noch privater gesellt, etwa wenn es familiär knirscht, dann kann man quasi die Uhr danach stellen, wann der Kollaps kommt. 

In einem Interview haben Sie gesagt, „Burnout ist heute gesellschaftsfähig“. Was meinen Sie damit?

Ahrens: Anders als etwa die Depression, die negativ besetzt ist, wird Burnout in der Regel als Zeichen von Leistungswillen verstanden. Wer ihn bekommt, war offenbar zuvor besonders leistungsbereit und hat sich verausgabt.

Gelten vom Burnout Betroffene nicht unterschwellig als „Schwächlinge“, die den Anforderungen nicht standhalten?

Ahrens: Das gibt es natürlich auch. Letztlich ist die Bewertung von der jeweiligen Firmenphilosophie abhängig. Aber eindeutig rangiert das Prestige des Burnout über dem einer Depression – auch wenn ich noch mal betone, daß beide ähnlich, nicht aber identisch sind. Daß Burnout zunehmend gesellschaftsfähig wird, das sieht man unter anderem daran, daß immer mehr Firmen bereit sind, mit Mitarbeitern, die davon betroffen sind, positiv umzugehen. Deshalb habe ich auch eingangs – als Sie fragten, ob Burnout nicht eine Mode sei – mit ja geantwortet, daß der Begriff aber dennoch Berechtigung und Nutzen habe. Denn ein Manager etwa hat mit der Diagnose „sich abzeichnende Depression“ doch ungleich mehr Probleme als mit der Diagnose Burnout. Er würde viel eher versuchen, dies gegenüber seiner Umgebung zu verheimlichen, vielleicht sogar sich selbst gegenüber nicht einzugestehen. Mit Burnout dagegen kann er weit offener umgehen. Die Schaffung der Definition Burnout hat also bilanzierend zwei große Vorteile: Erstens vereinfacht sie, gewisse Symptome zusammenzufassen und faßbarer zu benennen. Das macht es den Betroffenen und deren Umgebung leichter, die Problemlage, in die sie geraten sind, überhaupt zu erkennen und dann auch zu akzeptieren. Und zweitens macht sie es den Betroffenen leichter, ihr Problem gesellschaftlich zu kommunizieren und folglich auch zu bewältigen. Das einzige Problem ist, daß in dieser Akzeptanz auch eine Gefahr liegt. 

Nämlich?

Ahrens: Für manchen, der gar nicht betroffen ist, macht genau diese gesellschaftliche Akzeptanz den Burnout attraktiv. Es gibt ja bekanntlich auch Menschen, die sich – sagen wir mal – sehr „vorsichtig“ im Arbeitsleben bewegen. Im Klartext: Arbeitsunwilligen ist die Ausrede „Burnout“ natürlich doppelt willkommen! Denn damit haben sie erstens eine Ausrede, kürzerzutreten, zweitens können sie sich obendrein den Anschein eines Leistungsträgers verleihen. Aber auch wenn es diese Begleiterscheinung gibt, die Erkenntnis der Burnout-Problematik ist ein wichtiger Fortschritt.






Prof. Dr. Dr. Stephan Ahrens, der Mediziner und Sozialwissenschaftler ist Direktor des Fachzentrums für Streßmedizin und Psychotherapie Hamburg. Zuvor war Ahrens, geboren 1945 in Hameln, Ordinarius für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. 

 www.stressmedizin-hamburg.de

Foto: Überlastung und Zusammenbruch: „Wenn sich Mißbefinden chronifiziert, Sie spüren, daß Sie unter beständigem Energieverlust und Verlust Ihrer psychischen Lebensqualität leiden, wenn Sie von Monat zu Monat mehr Kraft brauchen, um die gleiche Leistung zu erbringen und wenn negative Stimmungen immer weniger weichen wollen, ist ein Burnout gut möglich“ 

 

weitere Interview-Partner der JF