© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Am 1. Juni wird in der Schweiz der Gotthard-Basistunnel eröffnet
Eidgenössisches Vorbild
Thomas Fasbender

Die Verantwortlichen des Hauptstadtflughafens BER sollten vor Neid erblassen: Pünktlich am 1. Juni wird der Gotthard-Basistunnel eröffnet. 1.500 Ehrengäste, darunter Regierende aus ganz Europa, fahren mit den ersten beiden Zügen unter dem Schweizer Gebirgsmassiv hindurch. Mit 57 Kilometern ist er der längste Bahntunnel der Welt; länger sind nur zwei U-Bahnlinien in China. 18 Jahre hat der Bau gedauert – trotz Widrigkeiten wie der Piora-Mulde, einer zuckerkörnigen Gesteinsschicht, die das Projekt fast zum Stillstand brachte.

Auch der Fertigstellungstermin mußte korrigiert werden – allerdings nach vorn. Zunächst sollte der Tunnel 2017 abgeliefert werden. Jetzt geht er im Dezember in Betrieb – auch dank der Tunnelbohrmaschinen Heidi und Sissi der badischen Spezialfirma Herrenknecht. Und das alles mit insgesamt nur 20 Prozent Baukostenüberschreitung. Der Vergleich zum Schicksal deutscher Großprojekte drängt sich auf: Elbphilharmonie Hamburg, Stuttgart 21 oder der bislang sechsmal so teuer wie geplante BER. An seinem Beispiel läßt sich nur noch lernen, wie man es nicht macht. Was auch immer die Gründe sind – die Inkompetenz der verantwortlichen Behörden oder politische Intrigen der Frankfurt- oder Tegel-Lobby –, ein Quentchen Mitschuld tragen auch die Wandlungen unserer Mentalität. Ob Verwaltung oder Unternehmen, seit Jahren werden vor allem Compliance und Transparenz gepredigt. Geschenke im Wert einer halben Pizza gelten als Bestechung. Jeder Schritt wird dokumentiert.

Das „zugekniffene Auge“, das einst vieles möglich machte, gibt es nicht mehr, es gilt null Toleranz. Bezog der Begriff Korrektheit sich früher einmal auf die Kleiderordnung, so heute auf das, was man tut und sagt. Kein Wunder, wenn am Ende jeder nur darauf achtet, keinen Fehler zu begehen. Bloß keinen Vorwurf riskieren. Was bleibt auf der Strecke: Eigenschaften wie Gemeinschaftsgefühl, das Einstehen füreinander und der Sinn für gemeinsame Ziele.