© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Antike Gestalten besiedeln leere Räume
Eine antimodernistische Avantgarde: Giorgio de Chirico mit Zeitgenossen und Weggefährten in der Staatsgalerie Stuttgart
Sebastian Hennig

Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt Bilder von Girgio de Chirico, ergänzt um einige Werke von Wesensverwandten und Weggefährten. Im Mittelpunkt stehen 21 Gemälde des Italieners, die nahezu alle während der Kriegsjahre entstanden sind. Allein das karg konstruierte Bild „Der beängstigende Vormittag“ stammt noch vom Herbst 1912.

Angesichts der Entwicklung des Gesamtwerkes wirkt die metaphysische Phase wie eine Stromschnelle in einem Flußlauf. Giorgio de Chirico und sein Bruder, der Schriftsteller Alberto Savinio, kehrten bei Kriegsausbruch aus Paris in die Heimat zurück und wurden einem Infanterieregiment in Ferrara zugewiesen. Der Maler galt als untauglich für den Fronteinsatz und konnte darum während der folgenden Jahre in Ruhe seine Kunst ausüben.

Ohne Zweifel sind die dabei entstandenen Bilder besonders gespenstisch und eindrucksvoll. Eine Fortsetzung dieser Ausdrucksweise hätte unweigerlich zur Erstarrung oder ins Kunstgewerbe geführt. Und tatsächlich wurden die Szenerien später realisiert als Architektur. Mit endlosen Fensterreihungen, Kolonnaden und Arkaden wurde unter Mussolini den großen Städten Italiens ihr heutiges Bild aufgeprägt.

Nach dem Krieg werden die Motive wilder und üppiger

Die Bilder in Stuttgart sollen für den Mythos der guten Moderne zeugen. Kaum zu glauben, daß es überhaupt noch ungebrauchte Kombinationen mit dem Wort „Moderne“ gibt. Im Untertitel der Ausstellung wird die „Magie der Moderne“ beschworen. Dabei könnte es zutreffender heißen: „Der Krieg als Brandbeschleuniger der Moderne“. Zurückgeblieben ist kalte Asche und der zähe Wille, aus den Trümmern etwas Gedeihliches heraufzuführen. Dieser Antrieb führte die Maler zu anderen Bildfindungen. Woher die Künstler kamen und wohin sie gingen, blendet die Ausstellung jedoch aus. Hier beschreibt der umfangreiche Begleitband aus dem Dresdner Sandstein-Verlag einen etwas weiteren Bogen.

Bereits 1919 beginnt de Chirico, sich von der konturierten Strenge seiner metaphysischen Perspektiven zu lösen. Die Pinselschrift wird malerischer, die Motive wilder und üppiger. Diese Tendenz mündet schließlich in jene große Bewegung zum Klassischen ein, die sich gegen Ende der zwanziger Jahre aller Kunstrichtungen bemächtigt hat. Die metaphysische Malerei wird nun von einer malerischen Metaphorik abgelöst. Antike Gestalten besiedeln die leeren Räume auf den Bildern. Die Malweise wird prunkvoll und repräsentativ.

Fließende Grenzen zwischen den Manierismen

Davon ist in Stuttgart ebensowenig zu sehen wie von den symbolistischen Anfängen des Malers. Bereits 1932 hatte die Berliner Nationalgalerie das Gemälde „Serenata“ von 1909 erworben. Ludwig Thormaehlen verwies im Anschaffungsjahr darauf, der Maler zeige sich „unter dem Eindruck Böcklinscher Kunst. Aber nichts ist von der Gestaltungsweise Böcklins zu spüren. (…) Hier aber hat die Melancholie der Öde, die Verlassenheit und der Zauber eines verdorrten Tales den Künstler bestrickt, es zu beseelen und zu gestalten.“

Der Maler hatte in Athen sein Studium der Malerei begonnen und setzte es nach der Übersiedlung an der Akademie in München von 1906 bis 1909 fort. Prägende Anregungen empfing er durch die Werke der Symbolisten Arnold Böcklin und Max Klinger. Damit setzte sich ein jahrhundertaltes Geben und Nehmen zwischen Italien und Deutschland fort. Anregung führt eben nicht zur Nachahmung und ist darum aus der äußeren Darstellung eines Bildes schwer zu belegen.

An den verschiedenen Malerhandschriften wird deutlich, welche Ausdrucksformen damals in der Luft lagen und wie sie in unterschiedlicher Verdichtung zur Gestalt gelangten. Maßgeblich bleibt dafür immer das Temperament des Künstlers. Es gibt keine Beeinflussung in dem Sinne, daß der Maler mit der besten Lösung zum Leithammel der Saison wird. Kunst entsteht zwar immer auch aus Kunst, und die Maler haben gewiß aufmerksam die Tendenzen im In- und Ausland beobachtet. Direkte Auswirkungen sind jedoch nicht nachweisbar. Die Grenzen zwischen den Manierismen waren fließend. Futurismus, Kubismus, Pittura Metafisica, Dadaismus und Surrealismus wurden erst nachträglich sorgfältig gesondert und bereinigt.

Geschieden waren die Begriffe nur dort, wo sie seinerzeit schon als Marketing-Strategien gehandhabt wurden. Das war zumeist Sache der Literatur und der Pamphletistik. Wenn der kleinbürgerliche Dadaist Kurt Schwitters in der Ausstellung mit einer Lithographie vertreten ist, auf der er den Titel der italienischen Programmzeitschrift Valori Plastici („Plastische Werte“) zitiert, dann ist das wohl eher ein beiläufiger Hinweis seines Aufmerkens auf das Allerneueste, aber kein Bekenntnis zu deren Programminhalten. Zumal die Künstler, die sich um diese Zeitschrift sammelten, alles andere als experimentell oder dadaistisch gesonnen waren.

Die Ausstrahlung wird immer metaphysischer

Carlo Carrà stellt in einem Band der „Plastischen Werte“ den deutschen Maler mit dem für italienische Zungen unaussprechlichen Namen Georg Schrimpf vor. In verwandter Ausrichtung zeigt die Ausstellung Werke von Rudolf Schlichter, Alexander Kanoldt, Anton Räderscheidt, George Grosz sowie von weniger bekannten neusachlichen Malern wie Niklaus Stoecklin, Heinrich Hoerle und Gottfried Brockmann.

Die oft abgebildeten Puppen und antiken Gipse standen damals üblicherweise in den Ateliers und den Akademien. Ihre Darstellung war zugleich Milieuschilderung und Programmsymbolik. Äußerliche Signale können oft in ganz andere Richtungen weisen.

Das belegen in der Ausstellung Oskar Schlemmers figürliche Reduktionen, Raoul Hausmanns Lichtbildnereien und die surrealen Tableaus von René Magritte und Salvador Dalí. Sie lassen sich allesamt nicht notwendig und willkürfrei den Bestrebungen des Italieners nahe rücken. Während da, wo zwar die Ikonographie abweicht, zugleich in der Haltung eine bemerkenswerte Nähe erscheint.

So in der gegenläufigen Bewegung, die Giorgio Morandis Werk beschreibt. Die Szenerien von zwei frühen Stilleben enthalten einen stilisierten Brotlaib, Früchte, ein aufgeschlagenes Faltblatt und eine Büste. In seinem späteren Werk gibt es nichts derart Lebendiges mehr. Die Ausstrahlung der leeren und statischen Gefäße wird immer metaphysischer. Carlo Carràs tiefere Einbettung in die Wirkung der Farbe und Filippo de Pisis vibrierender Malduktus lassen die Augen neugierig zurück nach mehr Sichtbarkeit der italienischen Malerei des Novecento in Deutschland blicken.

Hoffen wir, daß es einmal gelingt, die Kraft der Bilder aus den unzähligen liliputanischen Verstrickungen der neueren Kunstgeschichte zu lösen und einfach nur zur Anschauung gelangen zu lassen. Sie spräche zweifellos für sich selbst. 

Die Ausstellung „Giorgio de Chirico – Magie der Moderne“ ist bis zum 3. Juli in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Str. 30-32, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 07 11 / 470 40 25

Der Katalog mit 248 Seiten und 198 meist farbigen Abbildungen (Sandstein Verlag Dresden) kostet 38 Euro.

 www.dechirico-staatsgalerie.de