© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Es genügt nicht, nur die Freiheit zu beschwören
Nachruf: Der US-Historiker Fritz Stern, war ein tonangebender Mentor für eine Westbindung der Bundesrepublik
Karlheinz Weißmann

War die Westbindung Hauptbestandteil der Hintergrundideologie der alten Bundesrepublik, dann gehörte das Buch „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ zu den Werken, die die Basis für dieses weltanschauliche Konzept schufen und erweiterten. 1961 zuerst auf englisch erschienen, kurz danach ins Deutsche übersetzt, entwickelte der Verfasser Fritz Stern hier die These, daß es die modernitätskritische Tendenz von Erfolgsautoren wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck war, die man als tiefere Ursache für die deutsche Katastrophe betrachten müsse. 

Große Teile des gebildeten Publikums hätten aus deren Schriften ihr „mystisches Deutschtum“ und damit eine „Art von Unzufriedenheit“ gespeist, die die tatsächlichen politischen Verhältnisse immer an utopischen Vorstellungen von nationaler Identität und Geschlossenheit maß. Die Behauptung Sterns war an sich nicht neu und hatte bei allen Anhängern der Sonderwegtheorie – Apologeten wie Feinden – eine Rolle gespielt. Von denen unterschied sich Sterns Argumentation aber in zweierlei Hinsicht: Er verweigerte den Kurzschluß von den „Vorläufern“ auf jene, die deren Ideen und Stichworte aufnahmen, vergröberten und verfälschten, und beharrte auf dem „echten Idealismus“, von dem sich die getragen wußten, die man in konkurrierender Deutung als „konservative Revolutionäre“ bezeichnet hat.

„Engagierter“ Intellektueller statt wertfreier Forscher

Diese Differenzierung hatte auch mit Sterns pädagogischer Absicht zu tun, die darauf beharrte, die Deutschen seiner Gegenwart von jenem geistesgeschichtlichen Pfad fernzuhalten, der sie schon einmal ins Unglück geführt habe. Die Westbindung der Bundesrepublik betrachtete er nach der „Versuchung der Macht“ als „zweite Chance“, die den Deutschen gegeben wurde. Daß Sterns Wohlwollen gegenüber Deutschland nur eines unter Vorbehalt war, hatte wesentlich mit seiner Biographie zu tun. 

Am 2. Februar 1926 in einer Familie des assimilierten deutsch-jüdischen Großbürgertums in Breslau zur Welt gekommen, emigrierte er mit seinen Eltern kurz vor den Novemberpogromen von 1938 in die USA, wuchs dort heran und nahm ein Studium der Geschichte auf. Das schloß er mit einer Dissertation ab, die die Grundlage für das Buch über den „Kulturpessimismus“ lieferte. Obwohl Stern in der Folgezeit eine bemerkenswerte akademische Karriere machte – seit 1967 hatte er einen Lehrstuhl an der Columbia-Universität in New York inne, zeitgleich übernahm er eine dauernde Gastprofessur an der Universität Konstanz –, gab es nie Zweifel daran, daß er sich als „engagierter“ Intellektueller verstand. Ihm ging es nicht oder nicht nur um wertfreie Erkenntnis, sondern um seinen Beitrag zur Verteidigung der „offenen Gesellschaft“. In Westdeutschland galt er in den tonangebenden Kreisen als wichtiger und kluger Berater. Seine Kritik der preußisch-deutschen Traditionen sah man ebenso gern wie seine Sympathie für die Nachkriegsordnung. 

Daß Stern die Erwartungen, die man in ihn setzte, nicht immer erfüllte, gehört allerdings auch zu diesem Bild. Der Linken stieß seine Kritik der 68er auf, in denen er auch Träger eines unheilvollen Irrationalismus sah; die Bürgerlichen irritierte seine Ansprache zur Feierstunde des Bundestages am 17. Juni 1987, als er die Volkserhebung in der DDR auf eine Freiheitsbewegung reduzierte.

Was solche Stellungnahmen erklärte, war Sterns Prägung durch einen Liberalismus, der seine Positionen im Kampf gegen den Totalitarismus geklärt hatte. Daß es in Zukunft nicht genügen werde, die „Freiheit“ zu beschwören, um den Westen – wie auch immer definiert – zu verteidigen, hat Stern in seinen letzten Lebensjahren deutlicher als früher gesehen. Es gehörte aber zu den Grenzen seines Weltbildes, daß er die entscheidende Gefahr immer in der „Illiberalität“ sah und für die Gefahrenmomente, die aus dem Liberalismus selbst erwachsen, kein Organ hatte. Fritz Stern starb am 18. Mai in New York.