© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Euro
Krisenwährung in Permanenz
Bruno Bandulet

Es ist lange her, daß Alan Greenspan, der legendäre US-Notenbankchef, die Prognose stellte: Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben. Er kam tatsächlich: am 1. Januar 1999 als Buchgeld und am 1. Januar 2002 als Bargeld und gesetzliches Zahlungsmittel. Zu Beginn traten elf Staaten der Währungsunion bei, jetzt zählt sie 19 Mitglieder. Seit dem Frühjahr 2010, als Griechenland zum ersten Mal „gerettet“ werden mußte, taumelt die Kunstwährung von Krise zu Krise. Einmal drohte Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy der deutschen Kanzlerin mit dem Austritt seines Landes, dann liebäugelte Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit der Idee, zur Lira zurückzukehren, und schließlich bastelte der unberechenbare Finanzminister Varoufakis am Geheimplan einer griechischen Parallelwährung. Doch der Euro hat bisher alle Zweifler überlebt. Er wankte, aber er fiel nicht. Er scheint unzerstörbar.

Und dies trotz einer katastrophalen ökonomischen Bilanz. Nach letztem Stand beträgt die Arbeitslosigkeit in Frankreich über zehn Prozent, in Italien über elf Prozent, in Portugal über zwölf Prozent und in Spanien und Griechenland über 20 Prozent. Die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der Eurozone wurde zerstört. Seit dem Jahr 2000 wuchs die Wirtschaft in keiner anderen Region der Welt so langsam wie im Euroraum. Selbst die EU mit ihren 28 Mitgliedern schnitt insgesamt besser ab als die Währungszone. 1999 gingen noch knapp 44 Prozent der deutschen Warenexporte in die Eurozone, 2015 nur noch 35 Prozent. Die Briten, Dänen, Schweden, Polen, Tschechen und Ungarn können sich beglückwünschen, daß sie nicht mitgemacht haben.

Daß die Krise nur pausiert, daß die inneren Widersprüche der Währungskonstruktion unlösbar sind, läßt sich an den Zinsdifferenzen, vor allem aber an den Schulden und vielleicht am besten am Fieberthermometer der sogenannten Target-Salden ablesen.

Noch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre rentierten südeuropäische Staatsanleihen unter den Bedingungen eines freien Marktes um die 15 Prozent, griechische sogar weit über 20 Prozent. Als die Finanzmärkte überzeugt waren, daß der Euro tatsächlich eingeführt würde, verringerte sich der Abstand zu den deutschen Zinsen immer mehr, bis er fast ganz verschwand.

Diese Phase der Zinskonvergenz endete mit der Finanzkrise 2007/2008. Danach liefen die langfristigen Zinsen in der Eurozone wieder auseinander, bis es der Europäischen Zentralbank (EZB) schließlich gelang, für Beruhigung zu sorgen, indem sie ihr Mandat überschritt, mit früher unvorstellbaren Summen Staatsanleihen kaufte und damit ihre Bilanz aufblähte. Trotz dieser massiven Eingriffe in den Markt müssen die Südeuropäer immer noch deutlich mehr für ihre Schulden zahlen als Deutschland, ein untrügliches Indiz für die unterschiedliche Kreditwürdigkeit der Euro-Mitglieder. Die EZB mildert die Symptome der Krise, ohne sie therapieren zu können. Sie kauft nur Zeit.

Würde der Vertrag von Maastricht, der die Währungsunion begründete, ernst genommen, dann würden sich die Reihen der Euro-Mitglieder schlagartig lichten. Die Bedingung, daß die Staatsschulden 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht überschreiten dürfen, wird nicht einmal von Deutschland erfüllt. Im 4. Quartal 2015 lag die Staatsschuldenquote hierzulande bei 71 Prozent. In Griechenland, dem Faß ohne Boden, liegt sie mit 180 Prozent trotz des ersten Schuldenschnittes wieder beim Dreifachen des Erlaubten. In Italien und Portugal beträgt sie mehr als das Doppelte. Frankreich und Spanien kratzen an der Marke von hundert Prozent. Rückzahlbar ist die Schuldenlast längst nicht mehr. Nach seriösen Berechnungen müßten mindestens drei Billionen von den insgesamt zehn Billionen Euro-Staatsschulden in einem Schuldentilgungsfonds sozialisiert werden, um die Lage nachhaltig zu stabilisieren. Ob den Deutschen auch das noch zugemutet werden kann, weiß nicht einmal Angela Merkel.

Der wohl beste Gradmesser für die Stabilität des Systems sind die Target-Salden. Target ist das Akronym für Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System. Das System transferiert und mißt grenzüberschreitende Überweisungen innerhalb der Eurozone, erfaßt somit den elektronischen Geldverkehr und ermöglicht den Krisenländern Überweisungskredite, die bei den Notenbanken der stabilen Länder wie Deutschland oder den Niederlanden als Forderung verbucht werden.

Spiegelbildlich entstehen negative Target-Salden bei Problemländern wie Spanien oder Griechenland – Überziehungskredite, die sich ein Land „quasi aus dem gemeinsamen Kassenautomaten“ ziehen kann, wie das der Ökonom Hans-Werner Sinn einmal ausdrückte. Nicht anders als die offiziellen Euro-Rettungsschirme, nicht anders als die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank erlauben es die Target-Kredite den Krisenländern, über ihre Verhältnisse zu leben, ihre Zahlungsbilanzen auszugleichen, Waren im Ausland auf Pump zu kaufen oder auch, das ist nicht zu unterschätzen, die Kapitalflucht wohlhabender Bürger zu finanzieren, die ihrem eigenen Staat nicht mehr trauen.

In der ersten, vergleichsweise ruhigen Phase der Währungsunion signalisierten die Target-Salden keinerlei Krisenstimmung. Sie waren jahrelang so gut wie ausgeglichen. Ab dem Sommer 2007 explodierten die Salden bis auf über tausend Milliarden Euro, gingen ab 2012 wieder zurück, bleiben aber seitdem immer noch weit über dem Niveau der Vorkrisenzeit. Nach letztem Stand sitzt die Deutsche Bundesbank schon wieder auf Forderungen von 600 Milliarden Euro, von denen niemand weiß, was sie wert sind und wie oder wann sie eingetrieben werden können. Ein Beweis dafür, daß die Ruhe an der Oberfläche trügt, daß die Euro-Krise, die im Kern eine Zahlungsbilanzkrise ist, mitnichten ausgestanden ist. Auf Dauer kann sie nur überwunden werden, wenn die nicht wettbewerbsfähigen südeuropäischen Länder abwerten. Aber dazu müßten sie erst einmal aus der Währungsunion austreten. 

Die Alternative zum Ende mit Schrecken bleibt bis auf weiteres der Schrecken ohne Ende. Wenn der Alchimist Mario Draghi genug Geld regnen läßt und am Kurs der finanziellen Repression festhält, wenn die Rettungsschirme weiterhin funktionieren, wenn der Garant Deutschland lange genug solvent bleibt, wenn die Staatsschulden und dann auch noch die Bankeinlagen vergemeinschaftet werden – dann läßt sich das Euro-Experiment für eine schwer absehbare Zeit verlängern. Monetäre Zwänge für ein baldiges Ende sind nicht erkennbar. Ungedeckte Währungen sind nahezu beliebig manipulierbar, solange die Beteiligten willens sind, die wirtschaftlichen Kosten zu tragen und solange das Vertrauen in die Allmacht der Notenbank nicht zusammenbricht. Die Währungsunion war von Anfang an ein politisches, kein ökonomisch motiviertes Projekt. Sie zu reformieren oder in homogenere kleine Einheiten zu zerlegen oder sie ganz zu beenden, wird ebenfalls eine politische Entscheidung sein müssen. Vorerst bleibt offen, wann Alan Greenspan mit dem zweiten Teil seiner Prognose recht behalten wird. 






Dr. Bruno Bandulet, Jahrgang 1942, ist Publizist und seit 1995 Herausgeber des Deutschland-Briefs, der seit 2009 in dem libertären Magazin Eigentümlich frei erscheint. Von 1979 bis 2013 war er zudem Herausgeber des Branchendienstes Gold & Money Intelligence (G&M). Als Journalist arbeitete er unter anderem als Chef vom Dienst bei der Welt.