© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Kein Prager Frühling
Vertreibung: Tschechien signalisiert den Sudetendeutschen Entgegenkommen, ohne jedoch seine Geschichtspolitik zu revidieren
Gernot Facius

Die tschechische Reaktion auf das „historische Ereignis“ von Nürnberg (JF 21/16) kam prompt – als sei sie abgesprochen. Nur wenige Stunden nach dem 67. Sudetendeutschen Tag, auf dem erstmals auf Forderungen in Richtung Prag verzichtet wurde – nicht einmal der Ruf, die rassistischen Beneš-Dekrete aus der Rechtsordnung zu streichen, war laut geworden –, lobte Ministerpräsident Bohuslav Sobotka in einem Právo-Interview die jahrzehntelang revanchistischer Machenschaften verdächtigte Landsmannschaft. Sie habe „einige entgegenkommende Schritte getan, die wir für wichtig halten“. So sei das Verlangen nach Eigentumsrückgabe aus der Verbandssatzung genommen worden, „ein starkes Signal der Bemühungen, sich an der Zukunft zu orientieren und nicht zur Vergangenheit zurückzukehren“. Daß die Satzungsänderung per Gerichtsentscheid gekippt wurde, ließ er, wie die SL-Vertreter auch, unerwähnt. 

Der Prager Premier griff vielmehr auf die umstrittene deutsch-tschechische Deklaration vom Januar 1997 zurück. In ihr hatten beide Seiten erklärt, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden Fragen belasten wollten. Die damalige Führung der Sudetendeutschen Landsmannschaft sah darin den Versuch einer Schlußstrich-Politik zu Lasten der Vertriebenen und sprach von einer „Verhöhnungserklärung“. Von dieser Position hat sich die heutige SL-Spitze unter Bernd Posselt (CSU) immer weiter entfernt. Das offizielle Prag schreibt der Deklaration offenbar völkerrechtlich verbindliche Qualität zu, es läßt nichts unversucht, die deutsche Seite für diese Sicht zu gewinnen.

Der Sozialdemokrat Sobotka hat in seinem Interview die Vertreibung der Sudetendeutschen nach alter Prager Lesart mit der Ursache-Wirkung-Theorie zu begründen gesucht: Als Folge der nazistischen Okkupation hätten als erste die Tschechen aus den Grenzgebieten fliehen müssen, die Aussiedlung („odsun“) der Deutschen hingegen sei eine Folge dessen gewesen, was sich während der deutschen Besetzung im Protektorat ereignet habe. Die „wilde Vertreibung“, setzte Sobotka hinzu, sei niemals „offizieller Teil der Tschechoslowakischen Republik gewesen“.

Das alles gleicht, vorsichtig ausgedrückt, zumindest einer Geschichtsverkürzung. Denn der Gedanke einer „Aussiedlung“ der Deutschen war schon vor dem Zweiten Weltkrieg von Edvard Beneš und seinen Gefolgsleuten ventiliert worden – als „Lösung der Nationalitätenfrage“, wie unter anderem ein französischer Diplomatenbericht vom 17. September 1938 belegt. Anfechtbar ist auch Sobotkas Behauptung einer zwangsweisen Flucht oder Vertreibung von Tschechen nach dem Abkommen von München. Die im Sudetenland nach 1918 ansässig gewordenen Tschechen, meist Staatsbedienstete, hatten sechs Monate Zeit, ihren Wohnsitz zu verlegen oder für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren. Eine „Vertreibung der Tschechen“ gab es nicht. 

Zur „wilden Vertreibung“ der Deutschen nach Kriegsende haben auch tschechische Geschichtskenner eine andere Meinung als der Regierungschef. Kurz vor dem Sudetendeutschen Tag druckte die Wiener Presse einen Aufsatz von Jan Urban, einem ehemaligen Bürgerrechtler, der 1989 Sprecher des revolutionären Bürgerforums war. Die Fakten belegten, so Urban, daß die absolute Mehrheit der Gewaltakte und die gesamte Organisation der „wilden Abschiebung“ auf das Konto ausgewählter Einheiten der Armee unter direkter Führung des Verteidigungsministers Ludvík Svoboda gingen: „Der Präsident und die Regierung waren detailliert informiert (...). Das einzige Ziel der Regierung war es nach den Worten von Präsident Beneš, die Deutschen um jeden Preis ‘herauszuliquidieren’“. 

Auf diese Aspekte ist Sobotka nicht eingegangen. Immerhin hat er konzediert, daß man die Sudetendeutschen nicht als „Nachkommen der deutschen Nazis“ betrachten dürfe. Unter ihnen habe es viele Sozialdemokraten gegeben, die aktiv gegen die deutschen Besatzer opponiert hätten. Moderate Töne im Vergleich zu früheren tschechischen Erklärungen. 

„Wir brauchen Verbündete wegen der Risiken in Europa“, sagt Sobotka. Ihm geht es augenscheinlich um einen Schulterschluß mit Horst Seehofer (CSU). Der Sozialdemokrat und der Christsoziale,  der auch „Schirmherr“ der Sudetendeutschen ist, haben sich schon sechsmal getroffen. Ein Právo-Kommentar deutete die Achse München–Prag so: „Bayern kann der tschechischen Regierung (auch) als attraktiver Verbündeter gegen Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingsfrage erscheinen. Die Zeiten sind schwierig und in der Politik muß man grundsätzlich mit Akteuren zusammenarbeiten, mit denen die Positionen übereinstimmen.Gerade ihnen gegenüber sind die Reibereien mit den Sudetendeutschen in den Hintergrund getreten.“ 

Eine „Wende“ im komplizierten sudetendeutsch-tschechischen Verhältnis muß das noch nicht bedeuten.