© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Der total vernetzte Mensch
Zukunft des Nachrichtenkonsums: Zu jeder Zeit, an jedem Ort, über jedes Medium werden Nachrichten vom Sender an den Empfänger gebracht
Lukas Steinwandter

Ach, was waren das für medial herrlich einfache Zeiten! Als sich ein großer Teil der Bundesbürger abends ums „Lagerfeuer der Nation“ scharrte und gespannt dem „Tagesschau“-Moderator lauschte. Oder am Morgen, wenn die Familie gemeinsam am Frühstücks­tisch saß und der Vater seine Kaffeetasse während der Zeitungslektüre leerte. Mittlerweile ist das Leben der meisten Menschen von elektronischen Medien vollständig durchdrungen: Während der Arbeit am Rechner poppen Bildschirmfenster auf und kündigen E-Mails oder Eilmeldungen an, beim Sport ist der iPod Nano ständiger Begleiter, das Handy nehmen wir jedes Mal in die Hand, wenn es aufblinkt; ja, sogar während des Toilettengangs daddeln viele mit dem rechteckigen Alleskönner. Zeitungen überbieten mit ihren Online-Auftritten regelmäßig neue Rekorde, was Zugriffszahlen und Reichweiten anbelangt. Getrieben werden sie von den technischen Neuerungen.

Kommunikationswissenschaftler sprechen von der Medialisierung der Gesellschaft. Der Begriff bezeichnet die Veränderung durch Kommunikation- und Massenmedien und deren wachsende Bedeutung für Arbeit, Alltag und soziale Beziehungen. Längst beeinflussen sie die Wirklichkeit der Nutzer. Doch was bedeutet das für den Journalismus? Wie werden Nachrichten künftig konsumiert? Und über welche Geräte?





Nachrichtenlesen auf dem Kühlschrank

Science-fiction-Autoren und Haustechnikingenieure sind sich einig: das Haus der Zukunft ist intelligent. Es weiß genau, was seine Bewohner wann und wie wollen. Haushaltsgeräte sind via Internet verbunden und werden so zu Geräten, auf denen journalistische Produkte konsumiert werden können. „So spricht man etwa vom ‘connected home’, dem Kühlschrank oder Spiegel, der auch mit dem Internet verbunden ist. Dies sind alles Geräte, auf welchen potentiell Medieninhalte konsumiert werden können“, sagt der Leiter des News Lab vom Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), Konrad Weber, der JUNGEN FREIHEIT. Neben dem Smartphone würden auch andere ständige Begleiter wie Uhr oder Brille zu Nachrichtenübermittlern werden.

Ein Blick auf die neuesten Produkte von Konzernen wie Google, Apple oder Samsung zeigt erst den Anfang einer Entwicklung, die den Medienkonsum nachhaltig beeinflussen wird. Die Fachwelt spricht im Zusammenhang mit diesen Alltagsgeräten von Wearables, Computertechnologien, die am Körper getragen werden. Für den Journalistikprofessor an der Universität von Southern California, Robert Hernandez, steht fest: Wearables sind für Journalisten unausweichlich. Die ersten Medienunternehmen aus dem angelsächsischen Raum haben dies bereits erkannt und arbeiten zusammen mit Entwicklern an möglichen Darstellungsformen auf Uhren oder Brillen. Hoch im Kurs steht die Google Glass, ein Miniaturcomputer, dessen Display die Form eines Brillenglases hat und auch so getragen wird. Samsungs Smartwatch Gear S, eine internetfähige Armbanduhr, bietet ebenfalls die Möglichkeit, Texte, Bilder oder Videos zu visualisieren. 

Wearables haben auch Einfluß auf die Berichterstattung. Das bewies Tim Pool vom internationalen Nachrichtenportal Vice. Er nahm die Proteste in Istanbul im Jahr 2013 mit seiner Google-Brille auf. Der britischen Zeitung The Guardian sagte er, vor allem in Krisengebieten sei dies eine hilfreiche Alternative zur konventionellen Kamera. Damit könne dem Zuschauer ein neuer Blickwinkel gezeigt werden, wenn der Reporter sich in der Menge frei bewegen könne, während ihm Polizisten und Wasserwerfer gegenüberstünden.

Warum soll der Medienkonsument von der klassischen Zeitung abweichen und Artikel auf seiner Uhr lesen? „Das klassische Zeitungsformat entspricht je länger je weniger der Nutzungsgewohnheit im Netz. User wollen zeitunabhängig und kontext­unabhängig Informationen nutzen und bei den Themen aktiv auswählen können“, erklärt Weber. Das bewiesen auch neue Absatzformate wie Blendle. Der Dienstleister bietet Artikel von verschiedenen Zeitungen und Magazinen zum Stückpreis an. Kunden bezahlen nicht mehr im Abo, sondern stellen sich ihr Menü selber zusammen. „Kunden können so selbst auswählen, was sie tatsächlich nutzen und wofür sie zahlen wollen“, betont Weber. Der 27jährige warnt aber auch: „Andererseits hat der Kunde so kein Gesamtbild mehr, sondern nutzt nur noch diese Inhalte, die ihn auch wirklich interessieren. Die Schaffung eines Gesamtangebotes geht damit verloren.“ Die Vorteile überwögen dennoch. Denn beim digitalen Produzieren könne „der Produzent aus der Fülle der Formatmöglichkeiten die beste/passendste für seine Geschichte auswählen – eine Freiheit, die bis jetzt noch nie gegeben war“. 





„Achte deinen Leser!“

Wer die Medienberichterstattung während der Asylkrise beobachtet hat, bemerkte rasch die aufreißende Kluft zwischen Leitartiklern und Lesern. Die Kommentierfunktion schalteten viele Portale ab. Zu roh waren die Umgangsformen, aber auch zu offensichtlich die Lesereinsprüche, deren Meinung jener der Autoren diametral entgegenstand. Im Internetzeitalter findet der Informationsfluß nicht mehr nur in eine Richtung – vom Redakteur zum Leser – statt, es gibt auch einen Rückfluß. Durch die verschiedenen Möglichkeiten des Internets erhielten Journalisten erstmals in ihrer Geschichte ein direktes Feedback über ihre Arbeit. Hatten Medienmacher in der Vergangenheit gegenüber ihren Lesern einen Informationsvorsprung, ist dieser Unterschied in manchen Themengebieten nahezu nivelliert und wird sich künftig noch weiter annähern. Der ehemalige Chefredakteur mehrerer deutscher Tageszeitungen, Paul-Josef Raue, hat in der Reihe „Zukunft des Journalismus“ des Branchenmagazins Kress vor der „lähmenden Debatte“ über Papier oder Online gewarnt. Statt dessen sollten sich Redaktionen Gedanken über die Beziehung zu ihren Lesern machen. Raue formulierte dafür „Acht Pfeiler des Journalismus“. Zuvorderst in der Liste fordert der Medienberater: „Achte deinen Leser!“ Debatten, auch mit den Lesern, sollten geschätzt und ihnen Raum geboten werden.





16 Arten, Nachrichten zu konsumieren

Lesen, Sehen, Hören – das waren lange Zeit die einzigen Möglichkeiten, Nachrichten zu konsumieren. Spätestens mit dem Siegeszug der sozialen Medien hat sich das Angebot deutlich erweitert. Die niederländischen Forscher Irene Costera Meijer und Tim Groot Kormelink haben sechs Jahre lang Medienkonsumenten beobachtet und 16 Arten präsentiert, wie Nachrichten im digitalen Zeitalter aufgenommen werden: 

1. Lesen

2. Schauen

3. Sehen

4. Hören

5. Checken

6. Snacken

7. Scannen

8. Überwachen

9. Suchen

10. Klicken

11. Linken

12. Teilen

13. Liken

14. Empfehlen

15. Kommentieren

16. Abstimmen

Lesen, die klassische Methode. Dafür bringen die Konsumenten laut den Studienautoren mehr Zeit und Aufmerksamkeit mit. Ob auf dem Bildschirm oder Papier spielt dabei keine Rolle, auch nicht das Erscheinungsdatum. Beim Lesen werden eingescannte oder gecheckte Informationen eingeordnet. 

Das Schauen ist im Gegensatz zum Sehen eine aktive Tätigkeit, bei der man nicht gestört werden will. Das Sehen hingegen ist eine Nebentätigkeit. Die Forscher beobachteten, Zuschauer halten ihr Programm auch an, um es zu einem späteren Zeitpunkt und gegebenenfalls auf einem anderen Gerät fortzusetzen.

Hören, so die Forscher, geschieht meist nebenbei. Beispielsweise während des Autofahrens. 

Ähnlich oberflächlich checken Nutzer Informationen ab. Meijer und Kormelink bezeichnen so das Abklappern der persönlichen Nachrichtenseiten wie der sozialen Netzwerke, aber auch konventioneller Nachrichtenplattformen.

Beim Snacken verschafft sich der Medienkonsument eine kurze Übersicht, bei der man etwa lediglich durch eine Zeitung blättert. 

Als Scannen definieren die Forscher, gezielt nach jenen Informationen zu suchen, die fürs Berufsleben, im Freundeskreis oder für die Region von Bedeutung sind. 

Überwachen meint das regelmäßige Nachsehen, ob es relevante Neuigkeiten gibt. Durch Push-Benachrichtigungen oder soziale Netzwerke ist diese Methode deutlich vereinfacht worden.

Beim Suchen werden Nachrichten gezielt gesucht. Etwa auf Suchmaschinen, die Online-Auftritten von Zeitungen einen großen Teil der Aufrufe bescheren, oder auf den jeweiligen Portalen direkt. 

Klicken ist die Art, wie ein Nutzer zu einem Inhalt gelangt. Die Methode ist vergleichbar mit der Auswahl eines Artikels in einer Zeitung oder der Sendungswahl am Fernseher. Das Nichtklicken bedeutet nicht immer, daß den Nutzer der Inhalt nicht interessiert. Häufig reichen ihm schon die in Titel und Teaser angegebenen Informationen.

Linken, Teilen und Liken sind vorwiegend in sozialen Netzwerken Methoden, die dem Nutzer die Möglichkeit geben, sich zu exponieren. Sie werden anschließend von anderen Nutzern mit dem Inhalt in Verbindung gebracht. Scheuen sie sich vor den Rückmeldungen, unterlassen sie es lieber.