© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Der geheimnisvolle Untergang des Burenschlächters
Im Juni 1916 starb der britische Feldmarschall Horatio Kitchener auf dem Weg von England zum russischen Weißmeerhafen Archangelsk
Wolfgang Kaufmann

Weil die Armee des Zarenreiches im Kampf gegen die Mittelmächte immer mehr ins Hintertreffen geriet, sollte der britische Verteidigungsminister Feldmarschall Horatio Herbert Kitchener Anfang Juni 1916 nach Rußland reisen, um Nikolaus II. hinsichtlich der Reorganisation seiner Truppen zu beraten. Hierfür hätte das Empire keine geeignetere Person benennen können, denn die militärische Karriere des Earl Kitchener of Khartoum and Broome, der am 24. Juni 1850 im irischen Ballylongford bei Listowel geboren worden war, galt seinerzeit als beispiellos.

Sie begann 1870 mit dem Einsatz als Freiwilliger an der Seite der Franzosen im Krieg gegen Deutschland. Danach organisierte der junge Leutnant die Vermessung Palästinas, wobei er Arabisch lernte. Dem folgten 1883 der Eintritt in die anglo-ägyptische Armee und der neun Jahre währende Aufstieg bis zum Oberkommandierenden derselben. In dieser Eigenschaft leitete Kitchener die Niederschlagung des Aufstands der Anhänger des Mahdi, eines selbsternannten muslimischen Messias, im Sudan. Das Unternehmen gipfelte am 2. September 1898 in der Schlacht von Omdurman und der anschließenden Eroberung Khartums, für die der General den Titel „Baron“, den Bath-Orden sowie den Posten des Gouverneurs des nunmehrigen Kondominiums Sudan erhielt.

Letzteren bekleidete Kitchener freilich nur bis Ende 1899, dann erfolgte seine Ernennung zum Generalstabschef von Lord Frederick Sleigh Roberts, dem britischen Oberbefehlshaber im Annexionskrieg gegen die Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal. Diese Personalentscheidung resultierte nicht zuletzt daraus, daß der Kolonialoffizier und Freimaurer-Großmeister keinerlei Skrupel zeigte, wenn es darum ging, den Gegner zu demoralisieren oder zu vernichten. So ließ er beispielsweise die Leiche des Mahdi Muhammad Ahmad exhumieren, schänden und verbrennen, um jedweder Mythenbildung vorzubeugen.

Kitchener weggelobt als  russischer Militärberater

Und tatsächlich agierte Kitchener, der im November 1900 die Nachfolge von Roberts antrat, auch im Süden Afrikas mit brutaler Härte. Als die in Bedrängnis geratenen Buren zum Guerillakrieg übergingen, wandte er die Taktik der verbrannten Erde an und ließ darüber hinaus 120.000 Angehörige der Buren-Kämpfer in Konzentrationslager verschleppen, in denen 26.000 der meist Frauen und Kinder aufgrund mangelnder Verpflegung und Gesundheitsfürsorge starben – was eine eklatante Verletzung der mittlerweile in Kraft getretenen zweiten Haager Landkriegsordnung von 1899 darstellte. Aber nur so gelang Kitchener schließlich 1902 der Sieg über die zahlenmäßig weit unterlegenen Buren.

Es folgte die Ernennung zum Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte in Indien sowie dann am 5. August 1914 zum Kriegsminister des Empire. Als solcher stellte er in Windeseile 70 neue Heeresdivisionen aus Freiwilligen auf – genannt „Kitcheners Army“. Dennoch nahm die Zahl der politischen Gegner des nunmehrigen Feldmarschalls jetzt deutlich zu: Das Unterhaus forderte sogar die Kürzung von Kitcheners Salär um 100 Pfund. Verantwortlich hierfür war sein extrem dominantes und einschüchterndes Auftreten, die Unterstützung für das gescheiterte Landungsunternehmen bei Gallipoli sowie die von ihm zu verantwortende Munitionskrise des Jahres 1915. Zugleich erfreute er sich jedoch in der Bevölkerung nach wie vor höchster Popularität, weswegen eine Ablösung nicht in Frage kam. Vor diesem Hintergrund geriet Kitcheners Entsendung nach Rußland quasi zum Befreiungsschlag für das Londoner Establishment.

Die Überfahrt nach Archangelsk sollte an Bord des Panzerkreuzers „H.M.S Hampshire“ erfolgen. Der verließ den britischen Hauptflottenstützpunkt Scapa Flow auf den Orkney-Inseln am 5. Juni 1916 um 16.45 Uhr. Drei Stunden später durchquerte das Schiff den Hoy-Sund, als sich 2,4 Kilometer vor Brough of Birsay und Marwick Head eine gewaltige Explosion auf der Steuerbordseite zwischen Bug und Brücke ereignete. Hierdurch sank der Kreuzer innerhalb von nur 15 Minuten, wobei über 640 Menschen starben, darunter Kitchener und sämtliche mitreisende Angehörige seines Stabes. Schuld an den hohen Verlusten war der starke Seegang, welcher das Ausbringen von Rettungsbooten verhinderte.

Nach dem schockierenden Untergang der „Hampshire“, die vermutlich auch zehn Millionen Pfund in Goldbarren und -münzen mitführte, kamen sofort diverse Gerüchte auf. Zunächst wurden wechselweise die Irish Republican Army und der britische Geheimdienst beschuldigt, den Nationalhelden mittels eines „Höllenmaschinenanschlags“ beseitigt zu haben – im letzteren Falle unterstellte man Intrigen politischer Konkurrenten wie Winston Churchill oder den Versuch der Regierung, zu verhindern, daß Rußland sich durch Kitcheners Eingreifen wieder militärisch erholt und somit weltpolitischer Rivale des Empire bleibt. Später wiederum kursierte die Behauptung, für die Versenkung der „Hampshire“ sei der gebürtige Bure und deutsche Agent Frederick Joubert Duquesne verantwortlich gewesen: Dieser habe die Toten der Konzentrationslager in Afrika rächen wollen.

Aber wahrscheinlich stimmt doch die offizielle Version der britischen Behörden, daß der Panzerkreuzer schlicht und einfach auf eine der 38 Minen gelaufen war, die das deutsche U-Boot U 75 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Kurt Beitzen am 28. Mai 1916 zur Blockierung der Ausfahrt von Scapa Flow gelegt hatte. Und möglicherweise diente das Unternehmen auch genau dem Zweck, Kitchener zu eliminieren, denn die kaiserliche Marine verfügte damals über die Fähigkeit, Funksprüche der Gegenseite zu entschlüsseln.