© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Entscheidende Mitspieler im Lebenskreislauf
Mehr als nur „Bakterien“: Verblüffende Einblicke in das Wissen der Mikrobiologie des Erdaltertums
Wolfgang Müller

Es gibt dafür keine Zeugen, aber aufgrund der von drei Forschergenerationen angehäuften Datenmassen sprechen starke Indizien dafür, daß das Leben zwar im Wasser, aber nicht in der sprichwörtlichen „Ursuppe“, in einem mit organischen Molekülen angereicherten Ozean begann. Vielmehr, so faßt der als freier Fachautor tätige Molekularbiologe Johannes Sander den Erkenntnisstand zusammen (Naturwissenschaftliche Rundschau, 3/16), hätten sich vor vier Milliarden Jahren in den kleinen Reaktionsräumen hydrothermaler Tiefseequellen abiotisch organische Substanzen gebildet, die als Bausteine bei der Entstehung von Mikroorganismen dienten, die zum Selbsterhalt und zur Selbstreplikation fähig waren.

Sanders auf die Präsentation einer „kurzen Geschichte der Prokaryoten und Pilze“ konzentrierte Einführung in das mit Hypothesen gespickte Wissen der Paläomikrobiologie muß viele ihrer Aussagen als „umstritten“ markieren. Jeder wissenschaftlichen Kontroverse in dieser Disziplin entzogen ist jedoch das Urteil über die Bedeutung der unscheinbaren, abschätzig unter dem Etikett „Bakterien“ rubrizierten Organismen. Denn einmütig stufen Biologen Mikroorganismen, die an der Evolution fast aller Lebewesen dieses Planeten beteiligt waren, als „entscheidende Mitspieler im Kreislauf des Lebens“ und wichtige, alle ihre Wendungen beeinflussende Weichensteller der Evolutionsgeschichte ein.

Methanbildende Bakterien und erster Klimaumschwung

Zu den gewaltigsten dieser Wendungen zählt die Große Sauerstoffkatastrophe (Great Oxygenation Event/GOE) im Übergang vom Archaikum zum Proterozoikum vor 2,4 Milliarden Jahren. Ausgelöst wurde die GOE durch eine bislang nicht schlüssig erklärbare Veränderung des bakteriellen Stoffwechsels. Damals gab es eine besondere Gruppe von Bakterienarten, Organismen ohne Zellkern (Prokaryoten), die für ihren durch anoxygene Photosynthese bedingten, Methan (CH4) bildenden Stoffwechsel keinen molekularen Sauerstoff benötigten und die dadurch sogar abgetötet wurden. Daneben gab es eine Gruppe von – wahrscheinlich Vorläufer der heutigen, lange fälschlich als Blaualgen bezeichneten – Cyanobakterien, die einen komplexeren Stoffwechselprozeß, die oxygene Photosynthese, entwickelten. Dabei fiel freier Sauerstoff (O2) als Abfallprodukt an, der sich in der fast sauerstofflosen Uratmosphäre aber zunächst in der Oxidation von organischen Stoffen verbrauchte. Erst als der Neueintrag dieser Stoffe den bakteriell produzierten Sauerstoff nicht mehr binden und verbrauchen konnte, entstand in den Weltmeeren und in der Erdatmosphäre überschüssiges O2 – der kritische Kulminationspunkt der GOE war erreicht.

Was, wie Sander referiert, „nicht ohne Folgen für das Leben auf der Erde“ blieb. Die CH4-bildenden Bakterien, die bereits für einen ersten Treibhauseffekt in der Erdgeschichte gesorgt hatten, starben in der nun O2-haltigen Atmosphäre entweder aus oder mußten sich in sauerstoffarme Lebensräume zurückziehen. Die Oxidation von atmosphärischem CH4 zu Kohlendioxid (CO2) sowie der Rückzug der Methanbildner schwächte den Treibhauseffekt derart brutal ab, daß der Planet während 400 Millionen Jahre in der „huronischen Eiszeit“ erstarrte, die vor zwei Milliarden Jahren endete.

Massenaussterben von Tieren und Pflanzen

Wer sich schwer vorzustellen vermag, daß nur mikroskopisch sichtbar werdende Lebewesen tatsächlich solche Umwälzungen kosmologischen Zuschnitts verursachen, sei daran erinnert, daß heute die offenbar dem Laotse-Sprichwort „Das weiche Wasser bricht den Stein“ gehorchenden, unmerklich schaffenden Pflanzen aller Erdteile jährlich 123 Milliarden Tonnen CO2 binden und die Hälfte davon durch ihre unhörbare „Atmung“ wieder freisetzen.

Obwohl „wahrscheinlich“ noch vor der Sauerstoffkrise die ersten Eukaryoten, Organismen mit einem von einer Doppelmembran umschlossenen Zellkern, auftraten und damit eine neue Entwicklungsstufe des Lebens erreicht war, sorgten die primitiveren Prokaryoten während des Erdaltertums – des Paläozoikums – nochmals für tiefgreifende Änderungen des Evolutionsverlaufs. Am Ende des Perms verfügten Archaeen über eine effektivere Variante der Methanbildung, was zu vermehrter Freisetzung von CO2 und CH4 und – radikalisiert durch geologische Verwerfungen – wiederum zu einem Treibhauseffekt führte. Die jüngste Periode des Erdaltertums verzeichnete infolgedessen das größte Massenaussterben von Tieren und Pflanzen. Durch Bakterien verursacht, stellte diese Verheerung der Ökosysteme selbst die jüngere, mutmaßlich durch einen Meteoriteneinschlag verursachte Ausrottung der Dinosaurier sowie die Vernichtung eines großen Teils der Fauna und Flora vor 65 Millionen Jahren in den Schatten.

Öfter weist Sander auf die Frustration hin, die sich für Paläomikrobiologen aus dem Fehlen von Fossilfunden oder, soweit vorhanden, aus ihren wenig belastbaren Datierungen ergibt. Als „weitgehend unumstritten“ gilt allein die Datierung der ältesten, 1,8 Milliarden Jahre zählenden Mikrofossilien von Eukaryoten. Ob die „Technik zum Staunen“, die Rasterelektronenmikroskopie (REM), der sich die Paläontologen vom Frankfurter Senckenberg-Institut bedienen, um knapp 50 Millionen Jahre alte Fossilien aus der legendären Grube Messel bei Darmstadt zu durchleuchten (Senckenberg. Natur – Forschung – Museum, 3-4/16), Aufklärung über Sanders wesentlich ältere Forschungsobjekte verspricht, erscheint fraglich.

Doch berechtigen verblüffende Einblicke, die die REM-Technologie in Zellmikrostrukturen fossiler Tierknochen gewährte, zu einigem Optimismus. Voraussetzung ist ein außergewöhnlicher Erhaltungszustand, wie er sich für die Messel-Fossilien sogar auf die zelluläre und molekulare Ebene erstreckt, so daß demnächst vielleicht die ursprüngliche molekulare Zusammensetzung fossiler Zellen nachzuweisen ist, was neues Licht auf die evolutionäre Verwandtschaft der Messeler Wirbeltiere würfe.





Erdgeschichte

Die von der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS) festgelegte Einteilung der Erdgeschichte umspannt einen Zeitraum von etwa 4,6 Milliarden Jahren. Die ersten sichtbaren Spuren tierischen Lebens werden auf ein Alter von zirka 541 Millionen Jahren datiert – damit begann das Phanerozoikum, das jüngste Zeitalter der Erdgeschichte. Es wird in drei Phasen eingeteilt: Das Erdaltertum (Paläozoikum) von vor 541 Millionen Jahren bis vor 252,2 Millionen Jahren. Es folgte das Erdmittelalter (Mesozoikum) bis vor 66 Millionen Jahren. Die anschließende Erdneuzeit (Känozoikum) dauert bis heute an. Das Paläozoikum wird auch als Zeitalter der Trilobiten (Meeresgliederfüßer), Fische und Amphibien bezeichnet und dauerte 291,2 Millionen Jahre. Das Erdaltertum umfaßte sechs Perioden: Kambrium, Ordovizium, Silur, Devon, Karbon und Perm. Pflanzliches Leben existierte anfangs nur in Form von Algen. Erst im Silur (vor etwa 443 bis etwa vor 419 Millionen Jahren) entwickelte sich eine reiche Land-Flora. Das Perm endete mit dem gewaltigsten Massensterben der Erdgeschichte.