© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Westalgie-Touristen
Tausende Russen besuchen „ihre“ ehemaligen Kasernen auf dem Gebiet der früheren DDR
Thomas Fasbender

Ein schütteres Gehölz, genügsame Kiefern, Birken, ein breiter, vom Gras überwachsener Waldweg, zu beiden Seiten hohe Masten mit tropfenförmigen Laternen, leer, blind und verwittert. Die Stimme von Aleksej Artamonow, dem jungen Russen, der das Video im Internet hochgeladen hat, erklärt: Hier, ganz in der Nähe der Stadt Weimar, war das 45. Garde-Panzerregiment stationiert. Kein deutsches Wehrmachtsregiment, sondern eine Einheit der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Vier Buchstaben: GSSD. „Westgruppe der Truppen“ nannte sie sich erst ab 1988.

Die erste Begegnung mit der europäischen Zivilisation

Offensichtlich hat ein ehemaliger Angehöriger des Regiments den Amateurfilmer gebeten, Aufnahmen von dem Ort zu machen, an dem er vor Jahrzehnten seine Dienstzeit zubrachte. Doch da ist nicht viel. Kiefern, Birken, die paar Laternenmasten ... kein Haus, kein Stein, kein nichts. Nur auf dem Weg kann man vereinzelte Betonplatten ausmachen. Vor allem an die Birken habe der alte Soldat sich erinnert, sagt Artamonow. Die Birke, in Rußland ist sie der Baum des Lebens. Wo eine Birke steht, fühlen Russen sich zu Hause, auch in der Fremde als Okkupant.

Das Gefühl, die Erinnerung an einen Traum verloren zu haben, teilen viele GSSD-Veteranen. Für die meisten unter ihnen, und erst recht für die, die vom Land und aus der Provinz kamen, war es die erste Begegnung mit der europäischen Zivilisation. Dazu die Erfahrung, daß der Sozialismus in Deutschland, getragen von den bewährten Sekundärtugenden, viel besser funktionierte als daheim. Jene Deutschen in der DDR, die den Russen nicht von vornherein mit Haß begegneten, hatten Mitleid mit den armen Schweinen, den sowjetischen Rekruten, die streng abgeschirmt und unter erbärmlichen Bedingungen ihren Dienst ableisteten.

Millionen waren in dem halben Jahrhundert von 1945 bis 1994 westlich von Oder und Neiße stationiert. Eineinhalb Millionen unmittelbar nach Kriegsende, 1947 noch 350.000, später stieg die Zahl erneut. Ende 1991, da war Deutschland schon ein Jahr vereint und die Sowjetunion hörte auf zu bestehen: 337.800 Soldaten in 24 Divisionen plus 208.400 Ehepartner, Zivilangestellte und Kinder in 777 Kasernen. Außerdem 12.400 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 3.600 Artilleriestücke, 180 taktische Raketen, jeweils fast 700 Kampfflugzeuge und Hubschrauber.

Wie überall, wo ausländische Truppen sich niederlassen, blühten in Deutschland Mißtrauen und tiefe Abneigung. Doch es gab auch Begegnungen, zumeist parteiseitig organisiert, und schon seltener auch Freundschaft und Liebe. Mochten die sowjetischen Kasernen noch so abgeschottet sein, wer dort stationiert war, gewann einen Eindruck von dem, was für Russen noch heute das ewige Deutschland ist: Ordnung, Sauberkeit, Disziplin, Gehorsam.

Seit einigen Jahren kehren sie zurück, nicht nur die Veteranen, sondern vor allem patriotisch gesinnte Jugendliche, von denen es in Rußland viele gibt. Dabei geht es den jungen Videofilmern, die auf der Suche nach überwucherten Motiven durch Wünsdorf, Eberswalde, Nohra bei Weimar, Fürstenberg oder Krampnitz bei Potsdam streifen, nicht um die persönliche Erinnerung. Es ist auch keine Nostalgie, die in den Videos Ausdruck findet, erst recht nicht die Sehnsucht nach verlorener, imperialer Macht.

Auf der Suche nach Identität

Keiner der Jungen hat eine Ahnung, wie hart der Dienst in der Sowjetarmee war. Nein, es ist ein Reflex, der den Deutschen verlorenging, der instinktive Respekt vor dem Opfer der Altvorderen.Hunderte Videos kann man auf Youtube und den russischen Pendants „Odnoklassniki“ und „VKontakte“ betrachten. Verrostete Schlagbäume mitten im Wald, heruntergekommene Gebäude, seit einem Vierteljahrhundert unbewohnt. Flughäfen mit Landebahnen, deren Beton unter der zähen Grasnarbe verschwindet.

Aufschlußreich sind die Diskussionen in den dazugehörigen Internetforen. Da finden sich Beschimpfungen des „Verräters Gorbatschow“ ebenso wie der Hinweis darauf, daß der Ruf „Wir sind ein Volk“ in der ehemaligen DDR lauter erklang als im deutschen Westen. Das hat man auch in Rußland aufmerksam registriert. Aber längst nicht alle Beiträge sind politisch. Die meisten sind von Neugier gekennzeichnet – wo hat mein Großvater, mein Urgroßvater, mein Onkel gedient? Die filmische Aneignung der wüst liegenden Stätten ist auch ein Versuch der umgekehrten Filiation, der Aneignung der Leiden und Opfer der Groß- und Urgroßväter-Generationen. Gerade unter jungen Russen ist der Wunsch stark, wieder Teil des großen Kontinuums aus Vergangenheit, Jetzt und Zukunft zu sein. Es ist das Streben nach Identität.