© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Pankraz,
Euphorion und der Knabe Wagenlenker

Zehn Minuten Deutschstunde, Goethe, „Faust II“. Pankraz hat – zugegebenermaßen reichlich spät – die Faust-Inszenierung von Robert Wilson und Herbert Grönemeyer am Berliner Ensemble besucht, nicht zuletzt um sich anzusehen, wie Euphorion darin wegkommen würde. Euphorion tritt im zweiten, „symbolischen“ Teil des Stückes auf. Er ist der ungebärdige junge Sohn des alten Faust und der schönen Helena und verkörpert den Geist der noch ganz frischen, vom wirklichen Leben unbelehrten Jugend, ihren Drang, die Welt von Grund auf zu verändern und den Vätern zu zeigen, wohin die Reise „eigentlich“ zu gehen habe.

Aber leider bereitet die Wilson/Grönemeyer-Version gerade in dieser Hinsicht eine Enttäuschung. Die Szenen der sogenannten Helena-Tragödie sind scharf gekürzt, worunter besonders Euphorion zu leiden hat. Er kommt kaum dazu, überhaupt etwas zu sagen; über die Gründe seines grausamen Scheiterns kann der Zuschauer nur rätseln. Die Berliner Aufführung ist eben eine dezidiert und angestrengt „junge“ Angelegenheit, es spielen nur junge Schauspieler, und da wollte man offenbar vermeiden, ausgerechnet die kecke Jugend in heikle Verhältnisse zu bringen und sie  kritisch anzuleuchten.

Dem Autor Goethe indes ging es gerade hier um heikle Verhältnisse und kritische Beleuchtung. Schon der Name „Euphorion“ deutet darauf hin. Er leitet sich von einer mythologischen Figur ab, die in der „Ilias“ von Homer auftaucht. Dort ist Euphorion der Sohn des griechischen Superhelden Achilles, gezeugt mit Helena auf der Insel der Seligen, vom Blitz des Zeus erschlagen, weil er dessen Liebe verschmäht – eine eher beiläufige, knapp erzählte Episode nur, die auf den Gang des Krieges um Troja nicht im geringsten einwirkt, allenfalls ein schlechtes Bild des allgewaltigen Gottes Zeus erzeugt.


Bei Goethe geht es anders. Als sich Faust am Beginn der Helena-Tragödie zum ersten Mal mit Helena und Euphorion vor dem Volke zeigt, sind sein Glück und sein Vaterstolz ganz offensichtlich. Vater und Sohn sind eine unzertrennliche Einheit; jedenfalls bildet Faust sich das unüberhörbar ein, und der junge Euphorion sagt und tut in dieser ersten Szene nichts, um die väterliche Illusion zu bezweifeln. Als Sohn des Faust scheint er in jugendlicher Weise das „Faustische“ zu verkörpern, das bekannte „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen …“

Doch schnell wird klar: Genau das tut Euphorion nicht, oder besser: er tut es in dämonischer Verzerrung; für ihn gibt es keine Erlösung. Euphorion ist bei Goethe das Symbol des jugendlichen Genies, dem alles mühelos gelingt, sogar im Olymp, dem Gefilde der Götter, in das er spielend Eingang findet. Dem Kriegsgott Ares stiehlt er das Schwert aus der Scheide, dem Lichtgott Phoebus Apollon den Leben spendenden Lichtpfeil aus dem Köcher, und über Eros, den Gott der Liebe, obsiegt er mit „beinstellendem Ringelspiel“. Wie ein Wahnwitziger hetzt er dann den Himmel hinan, um Zeus herauszufordern – da trifft ihn der tödliche Blitz. 

Noch keinem Faust-Forscher scheint aufgefallen zu sein, daß Goethe in der Euphorion-Episode herbe Kritik an einem bestimmten sozialpsychologischen Typus geübt hat, der auch noch heute vorkommt und der immer vorkommen wird. Schopenhauer nannte dessen jugendliche Geniehaftigkeit – lange vor Baudelaire – La beauté du diable, die Schönheit des Teufels, und er konstatierte als erster, daß aus den meisten jugendlichen Genies später die schlimmsten Philister würden, die die stickigsten Zustände schüfen. 

Goethe wollte mit seinem Euphorion etwas Ähnliches zeigen. Dieser ist, betrachtet man es recht, eher eine Zeugung Mephistos denn Fausts, und tatsächlich hat sich Goethe seinem Adlatus Eckermann gegenüber auch in einem solchen Sinne geäußert. Euphorion, sagte er, sei identisch mit dem „Knaben Wagenlenker“, den Mephisto in der Kaiserpfalz zum Mittelpunkt des rauschhaften Karnevals macht. Der Knabe Wagenlenker aber karrt eine üble Fracht, nämlich Pluto, den Gott der Unterwelt und der Protzerei.


Sowohl Euphorion als auch der Knabe Wagenlenker sind synthetische Figuren aus dem Geist der Hölle; an ihre Seite treten im „Faust“ noch der Homunkulus, den Famulus Wagner ja völlig grundlos für sein eigenes Geschöpf hält, sowie der Bakkalaureus, den Mephisto zumindest gründlich verdorben hat und von dem – was nicht jeder weiß – die später populär gewordene Parole „Trau keinem über dreißig!“ stammt: „Das Alter ist ein kaltes Fieber, hat einer dreißig Jahr vorüber, so ist er schon so gut wie tot. Am besten wär’s, euch zeitig totzuschlagen ...“

Bakkalaureus, Homunkulus, Euphorion, der Knabe Wagenlenker – sie alle sind schön, charmant, einfalls- und erfindungsreich, dazu von der samtigen Unbekümmertheit der Jugend. Doch Goethe zögert nicht, in furchtbarer Weise den Stab über sie zu brechen. Während Faust vom Ewigweiblichen „hinangezogen“, das heißt gerettet wird, verfallen Euphorion & Co. nicht nur dem Hades, sondern sie nehmen das Ewigweibliche sogar noch mit hinab.

„Laß im düstern Reich, Mutter, mich nicht allein“, fleht der sterbende Euphorion, und Helena kann dem erschütternden Ruf nicht widerstehen. Die jugendliche Tat, mit sich allein gelassen und noch ungefiltert durch Lebenserfahrung und Leid, ist in ihrem Wesen vernichtend und entmenschlichend. Der Wagen, den Knaben lenken, fährt ins Aus. Das ist das Fazit der Helena-Tragödie im zweiten Teil des „Faust“.

Schade, daß nichts davon in der – an sich nicht uninteressanten und unterhaltenden – Wilson/Grönemeyer-Version im Berliner Ensemble übriggeblieben ist. Wer von dort kommt, geht eher mit dem Eindruck nach Hause, daß ihm hier gezeigt werden sollte, wie alte Männer (Faust, Mephisto, der Liebe Gott persönlich) die Welt  dauernd verschlechtern und daß die kecke Jugend und das Ewigweltliche kommen müssen, um dem endlich abzuhelfen. Goethe würde erstaunt den Kopf schütteln. Denn so flachsinnig hat er es auf keinen Fall gemeint.