© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Als Franz Joseph seine Völker verlor
Die russische Brussilow-Offensive im Juni 1916 und der Untergang Österreich-Ungarns als eigenständiger Machtgarant für die Nationalitäten im k.u.k. Reich
Dag Krienen

Der Erste Weltkrieg begann für Österreich-Ungarn denkbar schlecht. Das zu den klassischen Großmächten Europas zählende Reich der Habsburger wurde 1914 militärisch regelrecht gedemütigt. In Galizien erlitt es gegen die Russen eine Reihe von schweren Niederlagen. Das kleine Serbien, dessen „Züchtigung“ das zentrale Anliegen Wiens gewesen war, wehrte alle Angriffe ab. Bis Ende 1914 mußten die k.u.k. Truppen immense Verluste (etwa eine Million Tote, Verwundete und Vermißte) verkraften. Die Einbuße an friedensmäßig ausgebildeten Frontoffizieren war so hoch, daß die Armee fortan nur wenig mehr als eine Milizstreitmacht aus kurzfristig Ausgebildeten darstellte.

1915 änderte sich die militärische Lage, da Deutschland seine Truppen an der Ostfront verstärkte. Nach dem Durchbruch von Tarnów-Gorlice im Mai 1915 gelang Deutschen und Österreichern nicht nur die Rückeroberung Galiziens, sondern auch Kongreß-Polens. Im Oktober 1915 eroberten deutsche, österreichisch-ungarische und bulgarische Truppen Serbien. Gegen Italien, das im Mai 1915 in den Krieg eingetreten war, konnte sich die Doppelmonarchie aus eigenen Kräften behaupten. Ihre militärische Lage schien sich zu konsolidieren. 

Die russische Winteroffensive 1915/16 wehrten die k.u.k. Truppen ohne deutsche Hilfe ab. Gegen Italien gingen sie im Mai 1916 sogar zur Offensive über. Der Angriff aus Tirol heraus, um die Masse des italienischen Heeres im Rücken zu fassen, machte zunächst gute Fortschritte. An den österreichischen Teilen der Ostfront herrschte Anfang Juni 1916 eine trügerische Ruhe. Auf der Gegenseite hatte indes der fähigste aller Generäle des Zaren, Alexei A. Brussilow, das Kommando übernommen. Am 4. Juni 1916 eröffnete er, mit nur wenig überlegenen Kräften, aber einem neuen Angriffsverfahren, in Galizien und Wolhynien eine Offensive, die die k.u.k. Streitkräfte sofort in größte Schwierigkeiten brachte. Wien mußte erneut um deutsche Divisionen bitten, die, als sie eintrafen, die russischen Vorstöße auch zum Stehen brachten.

Nur mehr ein Juniorpartner des Deutschen Reiches

Militärisch brachte Brussilows Offensive am Ende keine Entscheidung. Für Österreich-Ungarn stellte sie dennoch eine Katastrophe dar, nicht nur wegen der erlittenen Verluste und des erzwungenen Abbruchs der eigenen Offensive in Italien. Wien mußte endgültig akzeptieren, daß nun alle Truppen an der Ostfront unter deutschen Oberbefehl gestellt wurden, auch wenn formal von einer „Gemeinsamen Obersten Kriegsleitung“ die Rede war. Zwar gab es weiterhin eigene österreichische Armeen, doch meist mit deutschen Generalstabsoffizieren und als „Korsettstangen“ eingeschobenen deutschen Divisionen. Damit waren alle Illusionen geplatzt, daß die Doppelmonarchie noch als eine zwar verbündete, aber mit dem Deutschen Reich gleichberechtigte Macht den Krieg auf eigene Rechnung führen könne. Faktisch verlor Österreich-Ungarn damit endgültig den Status einer Großmacht und sank zum Juniorpartner und Vasallen des Deutschen Reiches herab.

Auf den ersten Blick erscheint diese Entwicklung nur als konsequent, galt doch die Habsburgermonarchie bereits 1914 als die schwächste der europäischen Großmächte. Dennoch stellte sie zu dieser Zeit durchaus noch ein imponierendes Machtgebilde dar. So besaß die Doppelmonarchie eine größere Bevölkerung als Frankreich (52 Millionen zu 40 Millionen), ein größeres Eisenbahnnetz (44.748 zu 40.770 Kilometern) und eine zwar noch kleinere, aber schneller wachsende Industrie. Es waren vor allem die Nationalitätenkonflikte, die das Vielvölkerreich schon in den Augen mancher Zeitgenossen als zum Untergang verdammt erscheinen ließen. 

Der 1867 mit Ungarn geschlossene Ausgleich hatte zur Aufteilung in ein Königreich Ungarn und ein Kaisertum Österreich geführt, die nur noch wenige gemeinsame Institutionen, darunter die Armee, verklammerten. Die herrschenden Klassen Ungarns blockierten seither jeden Versuch, einen weiteren großen Ausgleich etwa mit den Tschechen oder den südslawischen Völkern zu schließen. In Cisleithanien, dem kaiserlichen Reichsteil westlich des Grenzflusses Leitha, nahmen die Deutschen, die gut ein Drittel der Bevölkerung stellten, eine ähnliche Haltung ein. 

Zwar bemühte sich Wien in kleinen Schritten und nicht ganz erfolglos darum, den übrigen Nationalitäten entgegenzukommen. Doch kaum eines der 15 Kronländer Cisleithaniens wies eine national homogene Struktur auf. Eine saubere räumliche Trennung der Völker und damit eine nationale Föderalisierung war unmöglich; Konzessionen an eine Nationalität sahen die anderen fast unvermeidlich als Bedrohung der eigenen Rechte an. Reformversuche endeten meist in schweren politischen Konflikten wie zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen oder Polen und Ruthenen in Galizien.

Eine kraftvolle gesamtstaatliche Politik war unter diesen Umständen kaum möglich; das „Durchwursteln“ herrschte vor. Der Entschluß zum Krieg gegen Serbien im Juli 1914 hatte so nicht zuletzt den Zweck, nach innen und nach außen die Handlungsfähigkeit der Monarchie zu demonstrieren. 

Daraus den Schluß zu ziehen, daß Österreich-Ungarn schon damals kurz vor dem Auseinanderbrechen stand, geht indes zu weit. Mit wenigen Ausnahmen und bei allem Reformverlangen strebten die kleinen Völker, auch die slawischen, noch eine politische Zukunft im Verband der Monarchie an. Bei Kriegsausbruch bekundeten sie ihre Loyalität und trugen den in den ersten zwei Kriegsjahren herrschenden inneren „Burgfrieden“ mit.

Abschied der Völker vom habsburgischen Gesamtstaat

Die Mobilmachung verlief ohne Störungen. Die Militärführung machte dann allerdings für die Niederlagen von 1914 Tschechen und Ruthenen verantwortlich. Tatsächlich hatten sich einige entsprechend zusammengesetzte, in Bedrängnis geratene Einheiten den Russen ergeben. Doch war die schlechte militärische Gesamtleistung der k.u.k. Armee vor allem das Ergebnis einer schlechten militärischen Führung. Ein Großteil ihrer Kommandeure erwies sich ihren Aufgaben nicht als gewachsen. Zu viele der höheren Offiziere verdankten ihren Rang adelsgesellschaftlichen Rücksichten. 

In erster Linie waren schlampige Planung, ihre die Realitäten ignorierende Operationsführung und ihre mangelnde Professionalität für die Niederlagen und die hohen Verluste verantwortlich. Am Anfang von Habsburgs Untergang als Großmacht stand so nicht das Versagen seiner Völker, sondern das seiner zu lange alten Mustern verhafteten Armee. Erst dieses Versagen führte zum endgültigen Verfall der Habsburgermonarchie. Denn ihre Legitimität hing von ihrer Fähigkeit ab, im mittel- und südosteuropäischen Raum die Rolle einer Großmacht spielen zu können. Schon der „Erwecker“ der tschechischen Nation, der Historiker František Palacký, hatte 1848 ausgerufen: „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.“ Und zwar zum Zweck, die kleinen Völker Mitteleuropas vor dem Imperialismus sowohl Deutschlands als auch Rußlands zu schützen. 

Tatsächlich ergab sich die Daseinsberechtigung der Monarchie, so der ungarische Historiker Petér Hanák 1986, nicht zuletzt daraus, in diesem national durchmischten Raum „eine gewisse ausgleichende Rolle sowohl unter den Völkern dieser Region als auch zwischen den einen Druck auf sie ausübenden und zum Eindringen bereiten Großmächten westlich und östlich von ihr“ auszuüben. Solange ihr dies gelang, hielten auch die kleineren Völker trotz aller Nationalitätenkämpfe an der Idee des habsburgischen Gesamtreiches fest. 

Als sie aber als eigenständige Großmacht 1916 endgültig abzudanken und den Krieg nur noch als Vasall Deutschlands fortzusetzen schien, verloren die nichtdeutschen Nationalitäten, die nicht für rein deutsche Interessen verheizt werden wollten, jedes Interesse an ihr. Sie wandten sich nun der zuvor meist nur von kleinen politischen Minderheiten vertretenen Idee eines eigenen, aus der Monarchie herauszubrechenden Nationalstaates zu. Für die endgültige Niederlage Österreich-Ungarns waren ausbleibende militärische Erfolge, Hungerblockade und gesellschaftlicher Zerfall verantwortlich. Doch anders als bei seinen früheren Niederlagen nahmen diesmal die Völker Abschied von einem habsburgischen Gesamtstaat, der nach seinem Abdanken als Großmacht seine Schutz- und Ausgleichsfunktionen ihnen gegenüber nicht mehr erfüllen konnte.