© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

„Wir unterschätzen diese Krise völlig“
Er gehörte bereits 2015 zu den Kritikern von Angela Merkels Asylpolitik. Nun veröffentlicht der ehemalige tschechische Präsident Václav Klaus sein Buch „Völkerwanderung“ auf deutsch – weil er die Deutschen warnen und aufwecken will
Moritz Schwarz

Herr Professor Klaus, in Ihrem Band „Völkerwanderung“ provozieren Sie mit einer überraschenden These: Die Migrationswelle, die Europa seit letzten Herbst erlebt, sei „nicht in erster Linie eine Folge des Zerfalls in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas“. Genau das wird allerdings, zumindest von Medien und Politik, als Hauptursache dargestellt. Wie verhält es sich nach Ihrer Ansicht aber tatsächlich? Was ist die wirkliche Hauptursache?

Václav Klaus: Mit unserem Buch wollen wir nicht provozieren. Das war nicht unsere Absicht. Wir wollen den Menschen eine Anleitung geben, die Migrationskrise besser zu begreifen. Wir wollen auch Fehlinterpretationen der Ursachen der heutigen Migrationswelle bekämpfen. Als eine Hilfe benützen wir die ökonomische Terminologie: Die Situation im Nahen Osten und Nordafrika schafft nur das Angebot an Migranten. Die Nachfrage nach ihnen kommt aber aus Europa. Die explizite (und implizite) Nachfrage ist leider viel wichtiger.

Welche Rolle spielt dann der Zerfall im Orient und Afrika tatsächlich? 

Klaus: Der Zerfall im Orient und Afrika ist wichtig, er bereitet das Migrationspotential vor. Die unerträgliche Situation herrscht in diesen Ländern aber schon seit langer Zeit. Neu ist das Benehmen Europas.

Sie schreiben, „die Deutschen (und) Europäer und mit ihnen auch die Migranten (fallen) einer massiven Manipulation zum Opfer“. Was für einer Manipulation? Was meinen Sie genau?

Klaus: Wir sehen die enorme ideologische Manipulation, etwas ähnliches, was wir in der Ära des Kommunismus erlebt haben. An der ersten Stelle bei dieser Manipulation steht die Ideologie des „Humanrightismus“, die den unlösbaren Konflikt zwischen „Human rights“ und Bürgerrechten mit sich bringt. An zweiter Stelle steht die Ideologie der Politischen Korrektheit. Dann kommt Multikulturalismus etc.

Wer übt diese Manipulation aus? Zu welchem Zweck? Wie funktioniert sie? Und was kann man dagegen tun?

Klaus: Die Manipulation (und absichtliche Indoktrinierung der Menschen) bewirkt, daß die Leute diesen Ideologien zum Opfer fallen. Es geht nicht um eine Konspiration von gewissen geheimnisvollen Persönlichkeiten. Dagegen muß man eine ideologische Alternative setzen. Hoffentlich wird diese Rolle die Alternative für Deutschland gewährleisten.

Die Flüchtlingskrise, so sagen Sie, habe in Europa zu einem „ideellen Konflikt“ geführt. Dieser sei allerdings nicht – wie in der Regel unterstellt – „ein Konflikt zwischen Altruismus und Xenophobie“. Sondern? Bitte erklären Sie uns diesen Gesichtspunkt.

Klaus: Das Wort Flüchtlingskrise ist falsch, wir befinden uns in einer Migrationskrise. Der Unterschied ist wesentlich. Wir sind darüber entsetzt, daß der heutige Konflikt in Europa als Konflikt zwischen Altruismus und Xenophobie interpretiert wird, als eine moralische Frage dargestellt wird. Nein. Es ist ein Konflikt zwischen Moralismus (nicht Moral) und gesundem Menschenverstand. Zwischen dem falschen und nur vorgegebenen Humanismus und menschlicher Verantwortung. Das Benehmen von Frau Merkel ist nicht moralisch, sondern nur moralistisch.

Sie sagen voraus, daß die Migrationskrise „zum Katalysator eines Wandels in der politischen Landschaft Europas“ werden wird. In Deutschland allerdings gehen die politischen und medialen Eliten davon aus, es handele sich nur um vorübergehende politische Friktionen. Die multikulturelle Gesellschaft könne verteidigt und erhalten (sogar ausgebaut) werden. Allenfalls komme es vielleicht zu einen Wandel am Rande der Gesellschaft. Wird sich diese Annahme unserer Eliten als Trugschluß erweisen? Wie weit wird dieser von Ihnen vorhergesagte Wandel gehen? Wie wird nach Ihrer Ansicht etwa die deutsche politische Landschaft am Ende dieses Wandels aussehen?

Klaus: Das ist eine zu lange Frage. Ich bin ganz sicher, daß wir nicht über „vorübergehende Friktionen“ sprechen sollten. Es ist viel mehr. Die heutige Krise und besonders ihre langfristigen Folgen sollten zum Wandel führen. Das Wort „sollten“ habe ich absichtlich benützt. Ich habe nicht „müßten zum Wandel führen“ gesagt. Die Passivität der Menschen im postdemokratischen Europa ist unerklärlich und unhaltbar. Ihre Sensitivität gegenüber dem unbestreitbaren Anwachsen der Unfreiheit und des staatlichen Interventionismus ist sehr niedrig, fast nicht existierend. Deshalb bin ich nicht optimistisch. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, den Wechsel unseres Verhaltens und unseres Denkens. Die heutigen Eliten (oder vielleicht Quasi-Eliten) können leider noch ruhig schlafen. Das quält mich. 

Sie formulieren in „Völkerwanderung“ zwei interessante Begriffe: Zum einen sprechen Sie von der „Unifizierung Europas“, zum anderen – analog zum Begriff „Gender Mainstreaming“ – von „Wander Mainstreaming“. Was meinen Sie mit diesen beiden Begriffen? 

Klaus: Schon lange Zeit unterscheide ich zwei Phasen (oder Stufen) der Entwicklung der europäischen Integration. Die erste Stufe ist die „alte Integration“ (Öffnung und Eliminierung verschiedener Hindernisse an den Grenzen europäischer Länder), die zweite Stufe ist die Unifizierung (Zentralisierung, Standardisierung, Harmonisierung) Europas. Dem ist mein Buch „Europa braucht Freiheit“ (Lit Verlag, Berlin, 2012) gewidmet. Der Begriff „Wander Mainstreaming“ ist nicht mein Wort. Das haben uns die Lektoren der deutschen Version des Buches „hineingeschmuggelt“.

Sie schreiben weiter, Ziel des „Wander Mainstreaming“ sei, „Europa von Grund auf zu revolutionieren“. Welche Art Revolution droht uns da? Wie muß man sich diese Revolution vorstellen? Worauf zielt sie ab? Was sind ihre Methoden?

Klaus: Die Ambition der europäischen progressistischen Eliten (in der Politik, in den Medien, in den Akademien und in der Kultur) ist es, die Menschen in Europa zu ändern und sogar einen neuen Europäer zu gestalten. Sie wollen ein neues Europa schaffen und dazu brauchen sie neue Menschen. Mit den alten Einwohnern Europas (wie mir) kann man ihre „Brave New World“ nicht realisieren.

Was wird sich nach Ihrer Einschätzung am Ende durchsetzen? Der „katalytische Wandel der politischen Landschaft“, von dem wir gesprochen haben? Oder die „Revolutionierung von Grund auf“ als Folge des „Wander Mainstreamings“?

Klaus: Ich bin kein Prophet, ich weiß es nicht. Das wissen die Leute auf der anderen Seite der Barrikade. Fragen Sie die Frau Bundeskanzlerin.

Ausdrücklich warnen Sie, daß wir in Eu-ropa – obwohl die Flüchtlingskrise ein Riesen-Thema ist – diese Krise unterschätzen. Inwiefern tun wir das? Welches Ausmaß hat diese Krise tatsächlich? Beziehungsweise welches Ausmaß wird diese Krise noch annehmen?

Klaus: Wieder eine Frage für das Orakel von Delphi. Die Politiker in Europa (und ihre Fellow travellers) unterschätzen die Migrationskrise absolut. Sie träumen von gewissen positiven „Beiträgen“ durch die heutige massive Migration, die aber nicht existieren und nicht existieren werden. Und sie verstehen überhaupt nicht die wirklichen Kosten der Millionen Migranten. Die wichtigste ist bestimmt nicht die finanzielle Seite, diese Summen können die reichen EU-Länder noch eine Zeitlang tragen. Es ist weniger als die Summe, die Deutschland jährlich, schon seit 25 Jahren von Westdeutschland nach Ostdeutschland sendet, und auch weniger als die Summe, die Griechenland – als Geschenk –, schon ein paar Jahre bekommt. Viel wichtiger sind ganz andere Kosten. Die Zerstörung des Sozialkapitals Europas, die Verletzung der europäischen Kultur und Benehmensmuster, die Bedrohung des jahrhundertelang gebildeten Gewebes der europäischen Werte, Bräuche, Sitten und Traditionen etc. Das diskutieren die Repräsentanten der „Willkommenskultur“ überhaupt nicht. Sie glauben – wahrscheinlich – an den Multikulturalismus. Sonst kann man es nicht begreifen.

Aber die Zuwanderungszahlen gehen doch zurück.

Klaus: Kurzfristig. Allein in der vorvorletzten Woche sind im Mittelmeer siebenhundert Migranten ertrunken. Die Hauptfaktoren – das ursprüngliche Angebot der Migranten und die europäische Nachfrage nach Migranten – gehen nicht zurück.

In Ihrer Heimat war „Völkerwanderung“ – inklusive Nachdrucke – rasch vergriffen. Warum war das Buch dort so ein Erfolg? Und warum haben Sie sich entschieden, den Band nun auch auf deutsch, französisch und englisch zu veröffentlichen?

Klaus: Die Debatte über Migration in der Tschechischen Republik ist lebhaft und mannigfaltig und von der Regierung und der Politischen Korrektheit noch nicht so limitiert wie in Westeuropa. Wir haben eine ganz andere Geschichte. Der Kommunismus hat uns etwas gelehrt. Wir sind empfindlicher als die Westeuropäer. Indoktrinierung und Manipulationen durch die Medien kennen wir sehr gut. Das gehört noch heute zu unserem historischen Gedächtnis.Wir wollten nicht nur die tschechischen Leser aus dem Schlaf wecken. Besonders Deutschland finden wir wichtig – Deutschland ist ein heutiges Schlachtfeld Europas. Nichts kann in Europa ohne Deutschland geschehen. Das empfinden wir als eine Bedrohung unserer Freiheit.Weitere Übersetzungen dieses Buches sind vorbereitet – zum Beispiel auf flämisch, russisch oder serbisch.

Allerdings hat „Völkerwanderung“ eher den Charakter eines Essays, es liefert Thesen, aber keine Sachargumente. Ist das nicht eine Schwäche Ihres Buches?

Klaus: Es ist wahrscheinlich „nur“ ein langer Essay, aber die Argumente sind da. Wir sprechen meistens über das Benehmen der europäischen Gesellschaft und besonders ihrer politischen Quasi-Eliten. Was kann man dazu „Sachliches“ sagen? Wie kann man es messen oder „wiegen“? Für unsere Argumentation brauchen wir zum Beispiel keine Detaildaten über Migranten. Wir brauchen keine Analyse der Situation in Syrien oder im Irak. Wir brauchen keine Daten über die Anzahl von Verbrechen, die mit den Migranten verbunden sind. Wir brauchen auch keine Daten über die Finanzkosten der Asylheime in Deutschland etc. Wir müssen darauf bestehen, daß wir analytisch denken und daß unsere Argumentation viele Ideen der Sozialwissenschaften und der Volkswirtschaftslehre benützt.






Prof. Dr. Václav Klaus, war Staatspräsident (2003 bis 2013), Parlamentspräsident (1998 bis 2002), Ministerpräsident (1992 bis 1998) und Finanzminister (1989 bis 1992) der Tschechischen Republik beziehungsweise der Tschechoslowakei. Von 1991 bis 2002 führte er zudem die zeitweilige Regierungspartei ODS (Demokratische Bürgerpartei) – lange Zeit die bestimmende politische Kraft in der Tschechei. Geboren 1941 in Prag, sieht sich der Wirtschaftswissenschaftler selbst als klassischen Liberalen und zählt neben Milton Friedman und Friedrich Hayek auch Margaret Thatcher und Ronald Reagan zu seinen Vorbildern. Klaus hat etliche Bücher veröffentlicht, darunter: „Blauer Planet in grünen Fesseln“ (2007), „Europa?“ (2011) und „Europa braucht Freiheit“ (2012), die alle in deutscher Übersetzung vorliegen. Nun ist sein Essay „Völkerwanderung. Kurze Erläuterung der aktuellen Migrationskrise“ (gemeinsam mit dem tschechischen Ökonomen Jiri Weigl) im Verlag Manuscriptum erschienen.

Foto: Ehemaliger Staatschef Klaus: „Wir brauchen einen Wechsel unseres Verhaltens und Denkens. Die heutigen Eliten – oder Quasi-Eliten – können leider noch ruhig schlafen. Das quält mich.“ 

 

weitere Interview-Partner der JF