© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Zwei Pinsel, vier Eßstäbchen
In der Weltverschlossenheit erblühend: Der Animationsfilm „Miss Hokusai“ entführt seine Zuschauer in die japanische Geschichte der Edo-Zeit
Sebastian Hennig

Keiichi Hara hat mit „Miss Hokusai“ einen Animationsfilm über den berühmtesten japanischen Künstler gedreht. Er entführt uns in das Edo (früherer Name Tokios) des Sommers 1814. Hokusai (1760–1849) betätigt sich vor der staunenden Menge als ein Monumentalist, malt einen Bodhi-dharma auf einen Bogen, so groß wie 120 Reisstrohmatten. Doch ebenso vermag er mit der Darstellung zweier Sperlinge auf einem winzigen Reiskorn zu verblüffen.

Immer ernst und verschlossen dreinblickend, öffnet er sich der Welt nur als ein Zeichnender. Seine Honorare steigen in dem Maße, in dem das Interesse an der gestellten Aufgabe abnimmt. Reiswein und Mammon locken ihn nicht. Seine bittere Heiterkeit ergießt sich höchstens einmal als Hohn über gering vermögende Kollegen und Schüler.

Seine hochbegabte 23jährige Tochter arbeitet mit in dem ungepflegten Atelier. O-Ei Katsushika (ca. 1800–1856) signiert mit dem Namen ihres Vaters. Unter den nur zehn Bildern, die ihr zugeordnet werden, befindet sich eine Nachtszene im Rotlichviertel. Das Laternenlicht reißt darauf runde Kegel aus dem zusammenfließenden Dunkel. Ein Lattenmuster wirft seinen Schatten auf die Straße. Alle Gesichter sind dem Betrachter ferngerückt, abgewandt oder verdeckt.

Solche subtile Darstellungen von Hokusai und Kollegen bestimmen die Bildwelt des Films. Als unmittelbare Vorlage seiner Handlung diente die mehrteilige Bildgeschichte „Sarusuberi“, die Hinako Sugiura (1958–2005) von 1983 bis 1987 publizierte. Die Zeichnerin stammte aus einer traditionsbewußten Familie von Kimonoherstellern und war eine profunde Kennerin der feudalen Epoche Japans. Der Film rückt allerdings näher an den europäischen Geschmack heran und übernimmt den Blickwinkel des westlichen Individualismus. O-Ei wird hier beinahe zur Legende ästhetischer Selbstbestimmung, in der Art von Camille Claudel oder Paula Modersohn. „Wir sind Vater und Tochter; mit zwei Pinseln und vier Eßstäbchen bringen wir uns immer irgendwie durch“, sagt die Pfeifenraucherin. Die Filmmusik wechselt unbefangen zwischen Mustern der Rockmusik und Versatzstücken der Klassik. Letztlich bleibt alles so vielschichtig, mehrdeutig und erfreulich unentschieden, daß der Betrachter sich seinen Teil denken darf. Er bekommt nichts vorgeschrieben, dafür aber ungeheuer viel zu schauen.

Die Weltverschlossenheit Japans bewirkte eine beispiellose Kunstblüte. Industrie und Handwerk entfalten sich. Die Blüte des Farbholzschnitts war eine Frucht der selbstgewählten Isolation des Landes. Später sollte dieser einflußlos entstandene Stil großen Einfluß auf die europäische Avantgarde ausüben.

Der Meister hatte insgesamt über zweihundert Schüler. Für eine Folge von zehn Büchern verwendete er zum ersten Mal den Begriff Manga im Sinne eines ungezügelten Bildes. Die „Hokusai-Manga“ versammelten als Lehr- und Musterbücher Momente des Alltagslebens, Grimassen und Gesten. Der Japaner erfaßte im vorübergehenden jähen Eindruck die Kraft des Lebens. Er signierte seine Werke als ein „Alter Mann, der vom Malen besessen ist“. Vor seinem siebzigsten Geburtstag sei ihm nichts Bedeutungsvolles gelungen, meinte er. Als er fünf Jahre danach verstarb, waren seine letzten Worte, es wäre noch ein großer Maler aus ihm geworden, hätte ihm der Himmel fünf weitere Jahre geschenkt.

O-Ei hat neben dem Talent auch die Sprödigkeit ihres Vaters geerbt. Die Werbung des Malers Kuninao weist sie immer wieder zurück, trotz der gegenseitigen Zuneigung. Dafür schenkt sie den rätselhaften Kurtisanen ihre Aufmerksamkeit und betreut die kleine Schwester O-Nao. Der Vater empfindet deren Blindheit als Strafe der Götter und pflegt darum keinen Kontakt zu Kind und Mutter. Die Schwestern fahren im Boot auf dem Fluß, der ins Meer mündet. Sie treiben in bewegte Gewässer und werden erfaßt von der „Großen Welle von Kanagawa“ aus Hokusais berühmtestem Holzschnitt.

Die belebte Natur beschäftigte den Maler ebenso wie das Geisterreich. Der Film kreuzt sinnliche Bilder mit übersinnlichen Erscheinungen. Da schüttelt ein roter Dämon Schädel von einem Baum. Ein Skelett kehrt sie zusammen. Genauer besehen ist es jedoch ein harmloser Gärtner, der um die abgeblühte Magnolie bemüht ist. Derartige Übergänge kontrastieren die Sentimentalität des Films.

So wie die Entwürfe des Hokusai nach dessen präzisen Anweisungen von Holzschneidern und Druckern realisiert wurden, beruht der Film auf der Handarbeit von 350 Zeichnern während dreier Jahre. Die Szenen kommen ohne die Hektik der dauerbewegten Figuren digitaler Produktionen aus. Theatralisch gemessen bewegt sich der Handelnde, derweil sein Gegenüber reglos ausharrt. Nur für das unüberschaubare Menschengewimmel auf der Ryogoku-Brücke und den Gassen der dicht bevölkerten Großstadt wurde digitale Technik hinzugezogen.

Am Ende wird auf den Zusammenbruch des Shogunats verwiesen. Der erfolgte gut zehn Jahre nach dem Tod der O-Ei. Der Film zeigt die Konsequenz der erzwungenen Öffnung des Inselreichs. Das Menschentreiben auf der Brücke von Edo wird überblendet von einer gezeichneten Ansicht des gegenwärtigen Tokio. Automobile und Züge rasen über die Brücken, Gleise und Uferstraßen. Alles ist hektisch geworden und gleichförmig bis zum Stillstand. „Miss Hokusai“ erweckt die Erinnerung an eine große Epoche.