© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Vom Rheinbund Abschied nehmen
Vor 25 Jahren entschied sich der Bundestag nach einer lebhaften Debatte für den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin
Thorsten Hinz

Das Abstimmungsergebnis, das die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth nach einem zwölfstündigen Redemarathon am 20. Juni 1991 spätabends verkündete, war knapp: Berlin hatte mit 337 (später korrigiert auf 338) Stimmen über Bonn obsiegt, für das 320 Abgeordnete votierten. 

Es hätte anders gelautet, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht für die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990 zwei getrennte Wahlgebiete bestimmt hätte. So konnten die Linkspartei (damals PDS, vordem SED) und die Ost-Grünen in der Ex-DDR die Fünfprozenthürde überspringen (die West-Grünen scheiterten an ihr). Ihre Abgeordneten stimmten fast durchweg für Berlin. Es handelte sich um eine wirkliche Debatte, die bei aufgehobenem Fraktionszwang einen Meinungsumschwung im Plenum bewirkte. Umfragen unter den Abgeordneten hatten wenige Tage zuvor noch eine klare Mehrheit für Bonn ergeben.

Eigentlich hätte es diesen Tagesordnungspunkt gar nicht geben dürfen, denn die offizielle Position lautete seit 1949, daß die Bundeshauptstadt Bonn nur ein teilungsbedingtes Provisorium darstellte und die Funktion stellvertretend ausübte, solange Berlin verhindert war. Nun zeigte sich, daß die Bonner Republik eine eigene politische Mentalität herausgebildet hatte und die Transformation in einen souveränen Nationalstaat vielen Politikern unheimlich war. Der Einigungsvertrag hatte zwar Berlin als Hauptstadt bekräftigt, doch die Frage des Regierungs- und Parlamentssitzes war gegen den Willen der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière (CDU) offengelassen worden. Der Widerstand aus den Reihen der Abgeordneten, der Ministerialbürokratie und der Landespolitiker gegen eine vertragliche Festlegung war zu groß gewesen.

Im Sommer 1990 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker sich als erster Spitzenpolitiker in öffentlicher Rede eindeutig für Berlin stark gemacht. Es mußte zu denken geben, daß dem sonst unangefochtenen Staatsoberhaupt daraufhin aggressive Widerworte entgegenschlugen.

Schäubles nationales Pathos wirkte überwältigend 

Die vor allem unter westdeutschen Politikern aus der zweiten und dritten Reihe verbreitete Scheu vor Berlin war menschlich verständlich. Sie wollten liebgewordene Gewohnheiten – Wiedervereinigung hin oder her – beibehalten. Zweitens hatten sie das berechtigte  Empfinden, von der 1989 in Gang gekommenen Entwicklung überrollt zu werden. Echte Handlungskompetenz lag lediglich auf der Königsebene des Kanzlers und des Außenministers. 

Auf dem Umweg der Hauptstadtfrage konnten die Zaungäste endlich auf Mitsprache pochen. Drittens schließlich stellten die Systemgrenzen des Kalten Krieges sich im Moment ihres Verschwindens als schützende Geländer heraus, an denen man sich jahrzehntelang festgehalten hatte. Ihr Wegfall war für bundesdeutsche Politiker, aber auch für Intellektuelle besonders gravierend, weil sie sich auf kein starkes Nationalgefühl und keine definierte Staatsräson besinnen konnten. In der Diskussion um die Hauptstadt ging es daher vor allem um die nationale Identität und das Selbstverständnis der Bundesrepublik.

Die Debatte eröffnete Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) mit dem Pro-Bonn-Antrag, der noch einmal die Argumente seines Meinungslagers zusammenfaßte: Der Umzug würde unnötig Geld kosten, Bonn stünde symbolisch für die Westintegration und „den demokratischen Neuanfang unserer Geschichte“, den die DDR-Bürger 1989/90 bestätigt und besiegelt hatten, denn: „Die Freiheitsrechte des Bonner Grundgesetzes waren das Ziel (ihres) Freiheitswillens.“ Vor allem betrachtete Blüm den klassischen Nationalstaat als obsolet.  Der Staat, „den wir uns wünschen, ist europäisch eingebunden und regional gegliedert“. Deswegen bräuchte man keine „alles dominierende Hauptstadt“.

Der 36jährige CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger war ehrlich genug einzuräumen: „Uns allen fehlte die Phantasie, uns die Entwicklung seit dem Herbst 1989 vorzustellen.“ Er bekannte: „Mein politisches Vaterland aber ist die Bonner Demokratie.“ 

Er drückte damit die für die nachgewachsene politische Klasse typische Geisteshaltung aus, sich mit einer Gesellschaftsform statt dem Staat zu identifizieren und dabei zu ignorieren, daß der Staat gewissermaßen der Ernstfall einer Gesellschaft ist, die Form nämlich, in der sie sich gegenüber der Welt erklärt und politisch handlungsfähig wird. Die Angst davor schimmerte durch, politisch erwachsen werden zu müssen. Der rhetorische Höhepunkt in der Rede Blüms lautete denn auch: „Laßt dem kleinen Bonn Parlament und Regierung!“

Willy Brandts Verweis auf Vichy sorgte für Irritationen

Die Gegenrede hielt der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, es wurde seine überhaupt beste Rede: Es gehe „generell um das Verhältnis zwischen Ost und West in Deutschland. Ebenso steht die Frage zur Debatte nach der Identität des gemeinsamen deutschen Staates, nach seiner Selbstdarstellung, nach seinem, unserem Verhältnis zur deutschen Geschichte, nach Kontinuität und geschichtlichem Neuanfang zugleich, nach unserem Verständnis von Europa, zu dem doch wohl wieder und endgültig das östliche Europa gehört.“ Was bliebe andernfalls für die Ex-DDR? „Das Problemgebiet? Der Sozialfall?“ Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher argumentierten ähnlich. 

Den emotionalen Höhepunkt, mit dem sich die Stimmung drehte, bot der von einem Attentat schwer gezeichnete Wolfgang Schäuble. Das nationale Pathos, das er wagte, wurde durch den gebrechlichen Eindruck, den er vermittelte, zurückgenommen und gleichzeitig gesteigert. Die Wirkung war überwältigend!

Die ganze politisch-geschichtliche Dimension brachte jedoch erst der greise Ehrenvorsitzende der SPD, Willy Brandt, ein. Er hatte hörbar Mühe, seinen Zorn darüber zurückzustauen, daß die Hauptstadtfrage überhaupt diskutiert wurde. „Beim Thema Europa scheinen einige zu meinen, nationale Hauptstädte werde es bald nicht mehr geben. Ich habe da meine Zweifel, was den Zeitraum angeht. Ich rege Wiedervorlage an, wenn die Briten London, die Spanier Madrid et cetera abgeschafft haben werden.“ Und er fügte hinzu: „In Frankreich wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand.“

An dieser Stelle sind im Protokoll Oh-Rufe und Widerspruch vermerkt, und nachfolgende Redner meinten, Brandt, den Hitler-Gegner der ersten Stunde, über den moralischen Unterschied zwischen „Vichy“ und „Bonn“ belehren zu müssen. Sie unterstrichen damit, daß sie dem Tag und der Stunde nicht gewachsen waren. Brandt hatte metaphorisch den Grundkonflikt benannt, welcher der Debatte zugrunde lag und den die wenigsten Teilnehmer inklusive der Berlin-Befürworter begriffen: Es ging darum, ob das wiedervereinte Deutschland den endgültigen Schritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit wagte – oder eben nicht. 

Der historische Auftrag der auf Westdeutschland beschränkten Bundesrepublik hatte schließlich darin bestanden, das 1945 suspendierte, seiner Souveränität entkleidete und geteilte Deutschland „als Ganzes“ zu denken, es zum Ausgangspunkt und Ziel der politischen Bemühungen zu machen und es als souveränes Subjekt wiederherzustellen. Bis dahin stand sie – mit abnehmender Intensität zwar – unter fremder Oberhoheit. Folglich symbolisierte Bonn, darin bestand sehr wohl eine Parallele zu Vichy nach 1940, nur das Mittel, nicht den Zweck.

Die Vehemenz der Bonn-Befürworter hingegen legte offen, daß sie die Haltung des politischen Mündels verinnerlicht hatten. In ihrer Europa-Erzählung schlug sich die Sehnsucht nach einem neuen Vormund nieder. Sie ließ die Einsicht vermissen, daß „Europa“ bis auf weiteres ein Bündnis kooperierender, aber auch konkurrierender, auf Eigennutz bedachter Nationalstaaten ist, in dem man sich, um zu bestehen, erst einmal als solcher begreifen muß. Auch die meisten Berlin-Befürworter boten in dem Punkt keine Alternative, sondern versuchten die falsche Euphorie zu überbieten.

Das Ergebnis der Sitzung war also zwiespältig: Eine richtige Entscheidung wurde aus falschen oder zuwenig durchdachten Gründen getroffen. An diesem Paradoxon krankt die Politik bis heute.





Bundestagsreden aus der Debatte 

über den zukünftigen deutschen Parlaments- und Regierungssitz vom 20. Juni 1991/Berlin – Bonn

Willy Brandt

 „Es geht um eine nationale Weichenstellung. (...) Deutschland bleibt nicht der Osten vom Westen, sondern es wird zur neuen Mitte Europas.“

Helmut Kohl

 „In jener unvergeßlichen Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 (...) war mir natürlich klar, daß ich für Berlin bin. (...) das ist die Erkenntnis, daß Berlin Brennpunkt deutscher Teilung und der Sehnsucht nach deutscher Einheit war.“

Wolfgang Thierse

 „Es steht die Frage zur Debatte nach der Identität des gemeinsamen deutschen Staates, nach seiner Selbstdarstellung, nach seinem, nach unserem Verhältnis zur deutschen Geschichte ...“

Wolfgang Schäuble

 „Deutschland, die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.“

Gregor Gysi

 „In Berlin findet die Vereinigung sozusagen in kompensierter, vielleicht auch zum Teil in verschärfter, vielleicht auch zum Teil in schnellerer Form statt.“

Rita Süssmuth

 „Wo wären denn die Menschen in den neuen Ländern, wenn nicht hier Parlament und Regierung zukunftsweisende Entscheidungen für ganz Deutschland getroffen hätten?“

Norbert Blüm

 „Laßt dem kleinen Bonn Parlament und Regierung! Bonn verliert mit Bundestag und Regierung viel, Berlin gewinnt mit Bundestag und Regierung viele neue Probleme.“

Gerhart Baum

 „Die Rückkehr zum Hauptstadtgedanken des 19. Jahrhunderts paßt nicht mehr in die Gegenwart eines Europa und eines föderalistischen Deutschlands.“

Peter Glotz

 „Mit dem Votum für Berlin schwenken Sie ab zum Europa der Vaterländer. (...)  Bewahren Sie die supranationale Europa-Idee Konrad Adenauers. Sie ist das wichtigste Erbe dieses Politikers.“

Friedbert Pflüger

 „Zur Bonner Demokratie gehört das Bekenntnis zu Europa. (...) Ist es wirklich notwendig, daß wir uns kurz vor der Vollendung des europäischen Binnenmarktes auf eine Kraftanstregung für einen deutschen Regierungssitz einlassen?“