© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Brünnhilde im Pyjama
Athletik statt Drama: An der Oper Leipzig schließt sich Richard Wagners „Ring des Nibelungen“
Sebastian Hennig

Die Geburtsstadt Richard Wagners hatte zu dessen zweihundertstem Jubiläum 2013 mit „Das Rheingold“ (JF 24/13) eine komplette Neuinszenierung von „Der Ring des Nibelungen“ in Angriff genommen. Jedes Jahr folgte ein weiterer Teil, und mit der Premiere der „Götterdämmerung“ in diesem April wurde das Unternehmen nun zum Abschluß gebracht. Genau vierzig Jahre nach der legendären Inszenierung von Joachim Herz ist an der Leipziger Oper damit wieder eine komplette „Ring“-Tetralogie zu erleben. Damit ist aber eigentlich auch schon das Beste erwähnt. Alles, was sonst beachtlich ist, hat mit einzelnen Leistungen zu tun, da das Große und Ganze hinter den Erwartungen und Möglichkeiten zurückbleibt.

Und doch sind diese erfreulichen Einzelheiten zumindest für die „Götterdämmerung“ beinahe entscheidend. Der starke Eindruck, den Thomas Mohr vor drei Jahren auf der Leipziger Bühne als geschmeidiger Loge im „Rheingold“ hinterlassen hat, wird mit seinem Rollendebüt als Siegfried fortgesetzt. Viele ehrgeizige Schmetterer drängt es zu dieser exponierten Partie, und ebenso viele ermattete Routiniers stellen sich zur Verfügung.

Das Gewandhausorchester spielt schmissig und laut

Mohr dagegen ist vom ersten Ton an gegenwärtig und erschöpft sich nie im Laufe des langen Abends. Seine Stimme bleibt stets angenehm und voll, ohne klirrende Härten, wie sie der übersteigerte Ehrgeiz des Unzulänglichen bewirkt. Er zeigt sich seiner Aufgabe ebenso souverän gewachsen wie seine Partnerin Christiane Libor als Brünnhilde. Von einem sängerfreundlichen Balkon dürfen die beiden ihren Gesang über das Orchester hinwegsenden.

Dieses schleudert wie aus einem vulkanischen Graben unausgesetzt sein Klang-Magma an die Decke, von wo es sich dröhnend wieder herabsenkt. Denn Generalmusikdirektor Ulf Schirmer läßt das Gewandhausorchester schmissig wie eine Zirkuskapelle aufspielen und dazu so laut, wie es nur irgend geht. Freilich klingen die exzellenten Musiker nie häßlich und wirken insgesamt auch besser organisiert als in den vorangegangen Teilen des neuen Leipziger „Rings“. Immer noch fehlt aber der innere Schwung, die unsichtbare Verbindung der Gesamtheit. Statt die kaum vernehmbaren Wandlungen zu Gehör zu bringen, in denen Wagners düstere Verheißung geheimnisvoll nachfedert, wird ein grober Keil auf den nächsten getrieben. Es klingt, als würde ein Riese mit einem Donnerblech hantieren.

Währenddessen wird auf der Bühne herzhaft gesungen und geküßt. Später ereignet sich dort ein ungleiches Handgemenge um den Ring. Dabei müssen Libor und Mohr während des Singens die Musik pantomimisch nachtanzen. Da geht es dann hin und her, vor, zurück, zur Seite, ran, beinahe so, als würden Telramund und der Schwanenritter im „Lohengrin“ ihre Klingen kreuzen.

Die englische Regisseurin Rosamund Gilmore (61) erweist sich in jeder Hinsicht und in jedem Detail ihrer Szenen als eine Meisterin der unfreiwilligen Burleske. Wie an den drei Abenden zuvor, betätigt sie sich auch hier wieder zugleich als Choreographin für das Leipziger Ballett. Der Vermerk auf dem Programm trägt den vorsorglichen Zusatz „in Zusammenarbeit mit den Tänzern“.

Rosamund Gilmore studierte an der Elmhurst School for Dance und gründete die „Laokoon Dance Company“. Als Choreographin klagte sie vor Jahrzehnten, das deutsche Tanztheater sei nicht interessiert an der „Erfindung einer Bewegung um ihrer selbst willen“, sein Hauptanreiz liege nicht in der Partitur. Anstatt die „athletisch-technischen Qualitäten seiner Tänzer vorzuzeigen“, beziehe es sich auf die dramatische Handlung.

Unpassenderweise in der Opernregie hält sich Gilmore jetzt für das damals Vermißte schadlos. Dafür stehen ihr wirklich gute Tänzer zur Verfügung, deren athletisch-technische Qualitäten zu einer völlig falschen Gelegenheit hervorgekehrt werden. Durch die ganze Handlung tänzelt sich Ziv Frenkel als Brünnhildes Roß Grane. Während das heldische Paar auf dem Felsen jubiliert, scharrt der Pferdemensch unten mit den Hufen. Als Siegfried seine Rheinfahrt antritt, tut er das nicht ohne die Begleitung von Brünnhildes Roß. Später wird dieses dann von Hagen (Rúni Brattaberg) am Schlafittchen gepackt, um in den Stall geführt zu werden.

Wer die Handlung kennt, den beschleicht während des Abends zunehmende Furcht davor, wie diese naturalistisch-affektierte szenische Konsequenz im Finale ausgehen wird. Zur Verhängnis drohenden Musik des Hagen winden sich sechs gestaltlose Tänzer in Ganzkörperstrümpfen wie Amöben über den Grund. Später produzieren sie sich als Möbelträger. Rabengestalten mit je einer Schwingen treten an Hagen heran und versuchen ihn zu blenden. Zuletzt finden sie ihr Opfer in Siegfried. Insgesamt sind den zwölf Tänzern zwanzig Charaktere zugeordnet. Sie irrlichtern nicht nur als Pferd und Raben zwischen den Sängern, sondern auch als Nornenschatten, Götter-Erscheinungen, Rheintöchter-Wasserelemente und Gibichungen-Dienstpersonal.

Einige schöne Stimmen bleiben im Ohr hängen

In einem umgekehrten Verhältnis zu den ausufernden tänzerischen Kommentaren steht die mangelnde Fürsorge für die übrigen Belange dieser Inszenierung. Dabei ist es eher erfreulich, daß die Sänger selbst von ihr weniger beansprucht werden. Die dürfen sich zumeist mit ungeteilter Aufmerksamkeit ihrem Gesang hingeben, ohne Abkehr und Verrenkung. Der erwähnte Ringkampf zwischen Siegfried und Bünnhilde bleibt eine Ausnahme.

Das Bühnenbild von Carl Friedrich Oberle hätte einfallsreicher ausfallen dürfen. Es ist nichts weiter als funktional und stellt die ganze Zeit eine graue Pfeilerhalle mit einer diagonalen Rampe zur Verfügung. In der weben anfangs im Zwielicht die Nornen. Im letzten Aufzug umwabert die nämlichen fünf Pfeiler ein Nebel. Sie sollen nun als Wald aufgefaßt werden. Zwischendurch wird die Lokalität mittels Beleuchtung zur Halle der Gibichungen gemacht.

Zum martialischen Mutwillen der musikalischen Ausführung unter Dirigent Ulf Schirmer paßt es gut, daß die drei Spieler der russischen Hörner zu Hagens Ruf auf der Bühne stehen. Jedes der gewaltigen Kupferhörner ist auf einen Ton gestimmt und muß seiner Länge wegen auf die Schultern des Vordermannes gestützt werden. Die Rheintöchter treten wie Zirkusreiterinnen im knappen Straßkleid auf. Die besorgte Gutrune (Marika Schönberg) erscheint in Nachthemd und Morgenmantel, Brünnhilde dagegen trägt einen Pyjama. Die Jagdgesellschaft klappert mit den Klappstühlen in die Musik hinein.

Das Bühnenbild bleibt sängerfreundlich bis zum Schluß, wenn der riesige erlegte Hirsch, den die Mannen im Tanzschritt über die Bühne ziehen, dem sterbenden Heldentenor zur Ottomane wird. Der Trauermarsch entfesselt noch einmal die ganze krude und branstige Gewalt des Orchesters. Auf dem weißen Flügel, der etwas albern die großbürgerliche Attitüde der Gibichungen andeuten sollte, wird dann der Leichnam Siegfrieds von Tänzern hereingeschoben. Und wie befürchtet steigt Brünnhilde als Tischtänzerin hinauf. Das Klavier erglüht dann von innen. Große Tücher segeln herab, die Pfeiler reißen auseinander, und wie Geister aus der Kiste gucken Personen heraus.

Die Augen vergessen rasch wieder den wirren Wust und das hektische Gequirle. Doch einige schöne Stimmen bleiben etwas länger im Ohr hängen.

Der „Ring“-Zyklus an der Oper Leipzig, Augustusplatz 12, beginnt am 28. Juni mit „Rheingold“, am Tag darauf folgt „Die Walküre“, am 1. Juli „Siegfried“ und am 3. Juli „Götterdämmerung“. Es gibt noch Restkarten.

Ein weiterer nur komplett buchbarer „Ring“-Zyklus steht 2017 auf dem Spielplan, außerdem einige Einzelaufführungen. Kartentelefon: 03 41 / 12 61 261

Der Inszenierungsprozeß des Leipziger „Rings“ ist in einer Dokumentation festgehalten, die in einer Box zusammen mit den vier Programmheften 45 Euro kostet.

 www.oper-leipzig.de