© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Von der Arche Noah zur Titanic
Zugebügelt: „Café Belgica“ zeigt eine Dauerfete als Lebensvermeidung
Sebastian Hennig

Noch bevor die Handlung des Films „Café Belgica“ anfängt, erscheint die juristische Schutzformel, alle darin gezeigten Personen seien reine Fiktion. Das wüste Treiben ist unverkennbar nach der konkreten Vorlage gezeichnet. Der Vater des Regisseurs Felix van Groeningen gründete 1989 in Gent das „Café Charlatan“ und hat dieses bis zum Jahr 2000 betrieben. Der Junior wirkte dort als Aushilfe mit, wo unter anderem die Brüder Dewaele aufspielten. Im Film „Café Belgica“ agiert deren Band „Soulwax“ in sechzehn verschiedenen Besetzungen und Maskeraden.

Die Einäugigkeit des „Belgica“-Besitzers Jo (Stef Aerts) eignet auch einem der heutigen Betreiber des „Café Charlatan“. Jo hat als Säugling ein Auge eingebüßt. Der schmächtige Junge wurde während der Kindheit durch den Bruder vor den Hänseleien der Mitschüler in Schutz genommen. Zuletzt wird er der Einäugige neben dem vor Gier blind gewordenen Frank sein.

Hier wird das eigene Erleben gründlich abgefischt. Die Frage danach, ob das nun autobiographisch sei, erübrigt sich. Wo alles Selbsttäuschung und Erregung ist, die Erfüllung immer angesteuert, aber nie erlangt wird, da erfüllt sich keine Biographie. Die Dauerfete ist hektische Lebensvermeidung. Aus impulshaften Zuständen läßt sich keine wirkliche Erzählung weben. Schuß auf Schuß zielen dort ins Leere, wo die Kettfäden nicht gespannt sind. Die einzelnen schlüssigen Episoden verbinden sich nicht untereinander. Dazwischen werden kleine Musikfilme gerückt, Sequenzen mit ausgeflippten Typen im Scheinwerfergeflacker, Trips und Kopulationen im Hinterzimmer. So wird die flüchtige Ereignislosigkeit zusammengekittet. Das Geschehen erhält immerhin einen strengen chronologischen Rahmen, aus dem der Tod des Vaters, die Geburt oder Abtreibung der Kinder und die folgende Trennung von der Freundin als deutliche Signale hervortreten.

Frank (Tom Vermeir) betreibt mit eher mäßigem Erfolg einen Gebrauchtwagenhandel, und seine Frau führt eine Hunde-Pension. Seiner angeborenen Rastlosigkeit genügt dieser Zustand nicht. Den Bruder Jo hatte er aus den Augen verloren. Nun verbinden sich ihre Lebensläufe erneut zu einem hochtourigen Projekt, dessen Wucht sie zuletzt wieder auseinanderschleudert. Jeder nimmt den Stil des anderen in sein Leben auf und verwandelt ihn für sich.

Alles beginnt damit, daß sie Pläne schmieden, um Jos bescheidene Absteige zu einem großen Konzertschuppen aufzublasen. Die Gäste, die früher in aller Ruhe bei einem Gläschen vor sich hin dösten, werden nun mit eingespannt. Frank ist expansiv, hemmungslos und verbrauchend. Jo dagegen sucht mit allem, was er tut, Stabilität, Heimat und Anschluß. Doch die Nestvergrößerung zieht eine Nestbeschmutzung nach sich. Aus Entspannung wird Verantwortung. Die Hornhaut vom Geldzählen auf den Fingern wandelt sich in eine Hornhaut auf der Seele.

Zuerst können sie noch die Dienste des bulligen Sicherheitsunternehmers abweisen. Als sich jener Mohammed verabschiedet, meinen sie erleichtert: „Gehen wir wieder zu den normalen Menschen.“ Um die familiäre Atmosphäre aufrechtzuerhalten, übernehmen sie selbst die Verantwortung für ihren offenen Treffpunkt. Die Zuständigkeiten für Problemklientel teilen sie untereinander auf: „Momo übernimmt die Marokkaner.“ Eine andere Freundin sagt bereitwillig: „Ich kümmere mich um die Schwarzen.“

Aber der zunehmende Erfolg zerdrückt die Freiräume. Freundschaften verwandeln sich in Dienstverhältnisse. Die Getränke werden teurer und enthalten mehr Eis. Die Improvisationen verlieren ihren Charme und münden bald in triste Gewalttätigkeit. Die Getreuen verlassen das ins Schwanken geratene Schiff oder sie werden ausgebootet. Jene euphorisch von Frank beschworene Arche Noah verwandelt sich unaufhaltsam in eine Titanic. Kompromiß folgt auf Kompromiß. Der stämmige Mohammed mit seinen unguten Türstehern muß doch angeheuert werden. Aber anstatt des Sicherheitsgefühls steigt nur die Aggressivität. Die alten Gefährten müssen vom Chef persönlich an der Sicherheitskontrolle vorbeigeschleust werden.

Jeder Erzähler erfaßt die Welt nach dem Maßstab eigener Erlebnisse. Der Konzertschuppen „Café Belgica“ wird als Modell für den üblichen Lauf der Dinge angeboten. Es ist das, was der Regisseur aus seinem Erfahrungsschatz schöpfen kann. Doch für den Anspruch großer Deutungen mangelt es dem Film an der Überschau. Er feiert das ausgelassene Leben mitten in dessen Kulisse. Der Hintergrund wirkt wenig überzeugend. Die Menschen sind zwar „coole Socken“, aber keine überzeugenden Charaktere. Hier wurde nach dem Klischee frisiert.

Es gibt einige groteske Szenen, in denen Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen dürfen. Doch der eigentliche Abgrund wird vom Film zugebügelt mit flotter Musik und guter Miene zum argen Spiel. Nicht anders werden es die Protagonisten wohl in ihrem Leben gemacht haben. Doch die Magie eines großen Films hätte die unsichtbare Wirklichkeit hinter der Attitüde abgebildet. Dieser Film jedoch verbirgt mehr, als er zeigt. Ein neues Fenster kann er uns nicht aufstoßen.