© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Im Kielwasser der Blitzkrieger
Europäische Reaktionen nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941
Karlheinz Weißmann

Ein Stimmungsbericht des SD vom Frühjahr 1941 kam zu der Feststellung, daß „die zum Teil in der Propaganda angedeutete zukünftige Rolle Deutschlands als führender Staat Europas und die unmittelbare Einverleibung von Ostgebieten (…) den Vorstellungen eines größeren Volksteils noch kaum zugänglich“ seien. Wenn die breite Masse seinen Visionen nicht zu folgen vermochte, hat das Hitler zwar mit Unmut erfüllt, aber das heißt nicht, daß er seinerseits eine Antwort auf die Frage hatte, wie mit jenem Machtgewinn umzugehen war, den er den überraschenden Erfolgen der Wehrmacht seit dem Herbst 1939 verdankte. 

Auch wenn Hitler gelegentlich die Formel „Europa den Europäern“ ins Spiel brachte, war ihm der Gedanke, den Sieg nicht nur militärisch, sondern auch psychologisch zu nutzen, fremd. Es gibt jedenfalls keinen Hinweis darauf, daß er eine Äußerung wie die des belgischen Sozialisten Hendrik de Man beeindruckt hätte, der nach der Besetzung seines Landes erklärte: „Der Krieg hat zum Zusammenbruch des parlamentarischen Systems und der kapitalistischen Plutokratie der sogenannten Demokratien geführt. Für die Arbeiterklasse ist dieser Zusammenbruch einer maroden Ordnung nicht etwa ein Unglück, er bedeutet Befreiung.“ Eine solche Interpretation war kein Gedankenspiel. Dem entsprachen Vorgänge im Sommer 1940, wenn man zum Beispiel den deutschen Soldaten in den ärmeren Vororten von Paris freundlicher begegnete als in den bürgerlichen Vierteln und es auf seiten der Linken von Anfang an eine erhebliche Kollaborationsbereitschaft gab.

Deutschland erfülle den Plan der Vorsehung

Obwohl die Idee, daß Krieg die Revolution ersetze, dem Faschismus vertraut war, neigte man an der Basis der verschiedenen faschistischen Parteien in den unterworfenen Ländern zu Vorbehalten gegenüber dem Sieger. Die erste Generation der Résistance rekrutierte sich kaum zufällig aus Männern der radikalen Rechten. Dagegen gab es an der Spitze der Bewegungen, die dem deutschen oder dem italienischen Muster folgten, viele, die wie Adriaan Mussert in den Niederlanden und Staf de Clerq in Flandern, Jacques Doriot und Marcel Déat in Frankreich, Léon Degrelle in Wallonien und Vidkun Quisling in Norwegen den deutschen Sieg als Chance betrachteten, um ein Regime nach ihren Vorstellungen zu installieren. 

Ähnliche Motive hatten auch sympathisierende Intellektuelle, etwa die Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle, Henry de Montherlant, Louis-Ferdi-nand Céline, Robert Brasillach, der in Italien lebende amerikanische Dichter Ezra Pound oder die brillanten Köpfe des jungen Rumänien, der Religionswissenschaftler Mircea Eliade und der Essayist Emile Cioran. Sie alle glaubten daran, daß Hitler eine funktionierende Ordnung für Europa schaffen werde. Im Januar 1941 schrieb Drieu la Rochelle: „Wie kann man glauben, der Sieger dieses Krieges könnte ein Reich sein, das aus lauter Anachronismen aus der Vergangenheit besteht? Wer heute an den Sieg Englands glaubt, ist wie jemand, der im Jahre 1900 den Sieg Chinas mit seinen Mandarinen mit Zöpfen und Jadeknöpfen über die europäischen Reiche mit ihren Autos und Kanonen prophezeit hätte.“ Eine Überzeugung, die man in diesen Monaten auch dann teilen konnte, wenn man der Weltanschauung Hitlers fernstand. 

Das galt zum Beispiel für die schweizerische Regierung, die eine Erklärung abgab, der zufolge sie bereit war, das neutrale Land in das „Neue Europa“ einzugliedern, oder für den ehemaligen niederländischen Regierungschef, den christlich-konservativen Hendrikus Colijn, der zu der lapidaren Feststellung kam: „Eine Tatsache überragt alles andere: Deutschland wird jetzt Europa führen.“ Ganz ähnlich sah das Colijns Landsmann, der berühmte Musiker und Dirigent Willem Mengelberg, aber auch der katholische Philosoph Teilhard de Chardin, der in einem Brief aus dem fernen Peking Gedanken niederschrieb, die sehr an die Drieu la Rochelles erinnern: „Ich persönlich halte an meiner Überzeugung fest, daß wir heute nicht den Untergang, sondern die Geburt einer Welt erleben ... Frieden kann nichts anderes bedeuten als einen höheren Prozeß der Eroberung. Die Welt muß denen gehören, die die aktivsten Elemente darin sind ... Im Augenblick verdienen die Deutschen den Sieg, denn – wie verworren oder böse ihre geistige Triebkraft auch sein mag – sie haben mehr davon als der Rest der Welt.“

Die Vorstellung, daß Deutschland den Plan der Vorsehung erfülle oder daß Hitler den bewaffneten Weltgeist verkörpere, daß hier ein modernes, effizientes und autoritäres System über die Anachronismen der liberalen und bürgerlichen Epoche triumphiere, war jedenfalls verbreiteter, als man heute für möglich hält. Den meisten schien unausweichlich, daß Hitler den europäischen Großraum nach seinen Wünschen gestalten würde: ein germanischer Block in der Mitte, Deutschland, ergänzt um die „stammverwandten“ Randgebiete, Frankreich zurückgeworfen auf die Grenzen des 15. Jahrhunderts, Italien und Skandinavien in Abhängigkeit, Großbritannien isoliert.

Dieses Bild mußte allerdings nach dem Angriff auf die Sowjetunion an einem entscheidenden Punkt korrigiert werden. Denn soweit Pläne für das „Neue Europa“ mit dem Entwurf eines deutsch-sowjetischen Kondominiums zusammenhingen, waren sie nun Makulatur. Diese Verschiebung konnte aber auch als Vorteil betrachtet werden: ein zusätzlicher Impuls zur Einigung des Kontinents, die an Dringlichkeit und Plausibilität gewann durch die gemeinsame Wendung gegen Osten und gegen den Kommunismus. 

Sinnfälliger Beweis dafür schien die Tatsache zu sein, daß die Anstrengungen, die schon seit dem Sommer 1940 unternommen worden waren, um ausländische, „germanische“ Freiwillige für die Waffen-SS anzuwerben, verstärkt wurden. Sie dienten in den Standarten „Nordland“ (Norweger und Dänen) und „Westland“ (Niederländer und Flamen), seit dem Dezember 1940 in der Division „Wiking“ (hinzu kamen Schweden und Esten). Unmittelbar nach dem Angriff auf die Sowjetunion erweiterte man die Verbände um ein selbständiges dänisches Kontingent („Frikorps Danmark“), das mit dem Segen der Regierung in Kopenhagen aufgestellt wurde. 

Hitler hatte keinen Sinn für eine europäische Vision

Ende 1941 war ein Mannschaftsstand von 12.000 Ausländern in der Waffen-SS und 6.200 freiwilligen Volksdeutschen aus West- und Südosteuropa erreicht. Darunter waren selbstverständlich Abenteurer und Sympathisanten des NS-Regimes, aber auch Christen, die das Abendland vor seinem mächtigsten Feind schützen wollten, und Idealisten, die meinten, daß sie ihren Nationen in dem von Deutschland beherrschten Europa einen Platz erkämpfen könnten. Eine Idee, die sogar in Frankreich auf Resonanz stieß, das 3.000 Soldaten stellte, die in deutscher Uniform als Légion des Volontaires Français contre le Bolchévisme kämpften. 

Vor allem verfing die Propaganda für den „antibolschewistischen Kreuzzug“ aber in Spanien, wo die Falangisten ihn als Fortsetzung des Bürgerkrieges betrachteten und als Möglichkeit, Rache an jenem Gegner zu üben, der als Verbündeter der „Roten“ bisher nicht zu treffen gewesen war. In Madrid, Barcelona und anderen spanischen Großstädten war es nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion zu spontanen Kundgebungen gekommen, und 18.000 Spanier meldeten sich freiwillig für die „Blaue Division“ (so benannt nach der blauen Hemdfarbe der Falange).

Hitler hatte für diese Alliierten und ihre Vorstellungen allerdings kaum Verständnis. Er wandte sich ausdrücklich gegen die Formel vom „Krieg Europas gegen den Bolschewismus“. Sowenig er bereit war, den Nationen im sowjetischen Völkergefängnis, die die deutschen Truppen oft als Befreier begrüßt hatten, eine lebenswerte Zukunft zu versprechen, sowenig konnte er sich ein Europa vorstellen, in dem die anderen Nationen ein eigenes Lebensrecht haben würden. Den Vorschlag Ribbentrops, als Antwort auf die Atlantik-Charta der angelsächsischen Mächte eine eigene Proklamation zur Vereinigung Europas zu erlassen, quittierte er mit dem Hinweis, daß er ein freies Land nicht unterwerfe, nur um ihm dann die Freiheit wiederzugeben.

Der amerikanische Historiker John Keegan hat in bezug auf die Lage im Sommer 1941 die Einschätzung formuliert: „Die Deutschen besaßen das Potential, um das alte Europa zu verjüngen, um das europäische Zeitalter – und damit die Vorherrschaft Europas – für Jahrhunderte zu konsolidieren. Im letzten europäischen Krieg zerstörten sie diese Ansicht endgültig und vielleicht unwiderruflich, weil sie von dem Gedanken an ihre eigene Vorherrschaft in Europa besessen waren.“ Das Urteil trifft weniger die Deutschen als Hitler in Person.