© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Reform jetzt!
Brexit-Folgen: Die Kritiker des Brüsseler Molochs müssen nun eine Erneuerung Europas forcieren
Thomas Fasbender

Der 23. Juni 2016 wird in die Geschichte eingehen. An jenem Tag prallte die Fiktion des immer enger zusammenwachsenden Kontinents, die Europa seit einem Vierteljahrhundert beherrscht, auf den Widerstand der Mehrheit. Das britische Volk hat nein gesagt: nein zum rapide fortschreitenden Kontroll- und Souveränitätsverlust, nein zum postnationalen neuen Menschenbild.

Nicht ohne Grund war es Großbritannien, das Mutterland der europäischen Demokratie, wo dies möglich war. Hätte David Cameron sich nur an die eigene Geschichte erinnert. 1649, fast eineinhalb Jahrhunderte vor der Französischen Revolution, als Absolutismus und Gottesgnadentum so heilig waren wie heute die Losung „Immer mehr Europa“, köpften die Engländer ihren König Karl I. und verkündeten die Republik.

Wer die Gründe des Brexit jetzt im Kleinen sucht, in der Rückständigkeit der überalterten Kleinstädter oder der Angst vor osteuropäischer Überfremdung, übersieht seinen revolutionären Charakter. Der Königsmord 1649 schuf die Voraussetzungen für den modernen Kapitalismus, der Brexit für ein neues Europa im 21. Jahrhundert.

Die Briten haben Opfer auf sich genommen; weder ein Königsmord noch ein Brexit bleiben folgenlos. Die EU steht vor der Frage: „Weiter so“, „Jetzt erst recht“ oder „Zurück auf Feld eins“? Noch bahnt sich das Elitenprojekt „Europäische Einigung“ scheinbar unaufhaltsam den Weg in Richtung Sozial-, Fiskal-, Einwanderungs- und politische Union. Frei nach Erich Honecker: Die EU in ihrem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf. Gleichzeitig schwelt die Eurokrise fort. In Südeuropa herrscht das Austeritätsdiktat. Die Länder an der Peripherie bluten, ihre Jugend ist arbeitslos. Banken und Konzerne profitieren. Und die Völker werden für dümmer verkauft als sie sind. Der Kaiser ist doch nackt, rufen die Menschen einander zu. Der Brüsseler Hofstaat aber tanzt und lobt die schönen Kleider.

Die Aufforderung, das Europa von morgen zu gestalten, richtet sich gerade auch an die konservativen Euro- und EU-Skeptiker. Wer sonst könnte ein künftiges Europa jenseits der Brüsseler Scheuklappen beschreiben? Die Linken haben abgewirtschaftet. Eingangs aber muß mit zwei Vogelscheuchen aufgeräumt werden: Erstens – in Europa brechen auch ohne Juncker, Merkel & Co. keine Kriege aus. Die europäischen Imperien, deren Konflikte in zwei Weltkriegen mündeten, sind so verschwunden wie die konkurrierenden Weltanschauungen, denen wir den Kalten Krieg verdankten. Die Völker sind auch ohne Zentralregierung willens und in der Lage, den Frieden zu wahren. Zweitens – es geht eben nicht um „Zurück auf Feld eins“. 

Auf dem Weg von der EWG zur EG und zur EU wurde viel Gutes und Nützliches geschaffen. Es geht darum, Spreu und Weizen zu trennen. Das beginnt mit dem Zurückstutzen des politisch-ideologischen Wildwuchses. Europa als Kontinent braucht kein politisches Programm. Wer fragt so etwas überhaupt nach? Nicht die Nachbarn. Nicht die Nationen. Nicht die Souveräne. Funktionseliten und Ideologen, die schon, doch seit wann sind die den Völkern vorgesetzt?

Zwei politisch-ideologische Richtungen geben in Brüssel den Ton an. Da sind einmal die neokonservativen Atlantiker, die aus der Gemeinschaft einen nicht-militärischen Arm der Nato gemacht haben. Die EU ist aber nicht „dem Westen“ untertan, sondern ihren Mitgliedern. Und da sind die Erben der 68er mit ihrem emanzipatorischen Programm. Die Errungenschaften jener Jahre sind aber gesellschaftlich längst absorbiert und verinnerlicht. Was uns die Fanatiker jetzt noch eintrichtern wollen, von der politischen Geschlechtsumwandlung (Gender Mainstreaming) bis hin zu immer exotischeren Toleranzprojekten, kann getrost zum Restmüll.

Ist der missionarische, politisch-ideologische Überbau erst aus der Welt, läßt sich auch mit den Technokraten wieder vernünftig reden. Kein Mensch wird den Binnenmarkt mit seinen Zoll- und Mehrwertsteuerregelungen aufgeben wollen. Das gleiche gilt für die einheitlichen Normen der grenzüberschreitenden Infrastruktur – Kommunikation, Transport, Energie, Daten – und die gegenseitige Anerkennung von Dokumenten und Diplomen. Auch die Niederlassungsfreiheit ist ein willkommenes Gut, sofern sie die Sozialsysteme des Gastlands nicht belastet.

Abzulehnen ist jede Form von Transferunion. Wenn ein Land seine Lebensbedingungen einem anderen angleichen will, dann nicht durch Subventionen, sondern durch Steigerung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Schwächere Länder bedürfen der Möglichkeit, den Wechselkurs ihrer Währung als Ausgleichsmechanismus einzusetzen. Damit im Zusammenhang steht der Agrarmarkt. Das Subventionsverbot in Kombination mit der Einheitswährung führt heute dazu, daß viele Landwirte im Süden allenfalls subsistenzfähig sind, während in Holland und Deutschland riesige Betriebe florieren.

Daß es keine Einwanderungsunion geben wird, haben die vergangenen zwölf Monate gezeigt. Die Staaten wollen selbst entscheiden, wie viele und welche Zuwanderer sie aufnehmen. Seither wissen wir auch, daß ein System gestaffelter Grenzen wie auf dem Balkan noch am besten gegen unkontrollierte Masseneinwanderung schützt. Sollte dem Migrationsdruck anders nicht zu begegnen sein, steht auch das bequeme Schengen-System zur Disposition. 59 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge ist die Europäische Union ein Beispiel für Stagnation, Heuchelei, Ungerechtigkeit und Demokratiedefizit. Dabei sind es nicht einmal moderne Tyrannen, die sie zusammenhalten, nur die Ängste vieler tausend Mandarine, die fürchten, im Grunde überflüssig zu sein. Wer den Brexit befürwortet, muß Antworten entwickeln, die diese nicht finden. Antworten für das 21. Jahrhundert.