© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

„Mehrheit für einen ‘Nexit’!“
Was kommt nach dem Brexit? Zerfällt die EU? Wäre das überhaupt wünschenswert? – Ja, meint Thierry Baudet und sieht sein Land als nächsten Ausstiegskandidaten. Dann, so der niederländische Intellektuelle, wäre die Gemeinschaft am Ende
Moritz Schwarz

Herr Dr. Baudet, ist das der Beginn eines neuen Europas?

Thierry Baudet: Ja, denn Großbritannien wird nun die Kontrolle über etliche politische Belange zurückerlangen und es wird wirtschaftlich prosperieren. Und mehr und mehr Europäer werden schließlich sagen: „Das wollen wir auch!“

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, ist anderer Meinung. Er sagt, es werde keine Nachahmer geben. 

Baudet: Wie kommt er darauf?

Weil Großbritannien, so Schulz, wirtschaftlich nicht prosperieren wird. 

Baudet: Ja, und warum sagt Martin Schulz das? Weil er es sich so wünscht, nicht weil die Daten das belegen.

Tatsächlich sind sich die Ökonomen bekanntlich uneins. 

Baudet: Ich sehe klar einen Aufschwung. Großbritannien wird nicht mehr diese hohen Summen an Brüssel zahlen müssen und viele Regularien loswerden, die seine Wirtschaft behindern.

Selbst wenn Sie recht haben sollten – vielleicht aber tritt Großbritannien aus und dennoch bleibt sonst alles beim alten? 

Baudet: Nein, die Dinge ändern sich längst, und Großbritanniens Austritt wird darauf wie ein Katalysator wirken. 

Zum Beispiel?

Baudet: Schon in der Vergangenheit gab es etwa in Frankreich und den Niederlanden Volksabstimmungen – zur EU-Verfassung oder zur EU-Erweiterung – in denen die Bürger nein gesagt haben. Blicken Sie nach Europa: In etlichen Ländern sind die Euroskeptiker im Aufwind, etwa in Frankreich und den Niederlanden, wo 2017 gewählt wird. Und doch auch bei Ihnen in Deutschland, wie die Landtagswahlen im März gezeigt haben. In Finnland wird es möglicherweise eine Volksabstimmung über den Verbleib im Euro geben, und in Ungarn über die europäische Einwanderungspolitik. 

In Frankreich, ebenso wie bei Ihnen in Holland, wird nun ebenfalls eine Volksabstimmung gefordert. Ist das realistisch oder nur Wahlkampfgetöse von Geert Wilders und Marine Le Pen?

Baudet: Das ist keineswegs unrealistisch. Wir Niederländer wählen im März, und es ist gut möglich, daß die Frage nach einem Referendum Teil des Wahlkampfes werden wird; ebenso könnte es in Frankreich sein, das im Juni wählt. Und bereits jetzt wollen 48 Prozent der Niederländer die EU verlassen.  

48 Prozent sind allerdings keine Mehrheit. 

Baudet: Richtig, aber vor nur zehn Jahren waren es noch weniger als fünf Prozent! Der Euroskeptizismus wächst also rasant, und ich glaube, bis zu einem Referendum, das ja nicht morgen, sondern erst in ein paar Jahren stattfinden würde, wird es in den Niederlanden eine Mehrheit für einen „Nexit“ geben.

Warum?

Baudet: Weil das Beispiel Großbritannien zeigen wird, daß es machbar ist. Weil darüber hinaus der Schritt Großbritanniens mehr und mehr Bürger in Europa zu einer Aufbruchsstimmung inspirieren wird. Weil die Krisen und Probleme, die wir zum Teil erst der EU zu verdanken haben, in Zukunft weiter zunehmen beziehungsweise zurückkehren werden. Weil die EU weiterhin – und sogar in zunehmendem Maße – ihre Inkompetenz demonstrieren wird, diese Krisen und Probleme zu lösen. Weil einzelne Mitgliedsstaaten dagegen in der Not mit nationalen Lösungen bessere Ergebnisse erzielen werden. Und weil die EU so mehr und mehr Bürger enttäuschen wird.

Könnte sich die EU angesichts des Brexit-Schocks nicht reformieren, so daß der Druck im Kessel abnimmt und eventuelle Mehrheiten für einen Austritt schwinden? 

Baudet: Das glaube ich nicht. Und zwar deshalb, weil die EU dazu von ihrem Wesen her nicht in der Lage ist.

Inwiefern?

Baudet: Weil es das Wesen der EU ist, Macht und Souveränität in einem Verwaltungsmoloch versickern zu lassen. In solch einem System existiert aber folglich kein Sinn für politische Autorität. Statt dessen gibt es nur Hunderte von politisch phlegmatischen Verwaltungsabteilungen, die jeweils einen Teil der Macht verwalten, ohne sich für das Ganze verantwortlich zu fühlen. 

Die Reform würde ja auch nicht aus dem EU-Apparat, sondern von seiten der Mitgliedsstaaten kommen.

Baudet: Auch das glaube ich nicht, denn das sind 28 Staaten, die alle unterschiedliche Interessen haben. Wenn Sie sich diese einmal als Diagramm vorstellen, würden Sie auf Anhieb merken, daß dort 28 Vektoren in verschiedene Richtungen streben und daß diese sich niemals bündeln, sondern stets gegenseitig aufheben. Natürlich, es wird den Ruf nach Reformen geben. Aber ich sage voraus, daß dieser in eine völlig andere Richtung gehen wird als das, was Sie unter Reform verstehen. Nämlich nun, wo die Briten weg sind, die immer noch eine gewisse bremsende Wirkung ausgeübt haben, werden die Eurokraten – als vermeintlich richtige Antwort auf den Brexit – darauf drängen, die EU „problemlösungsfähiger“ zu machen. Das heißt, die Macht und Zentralisierung der EU noch weiter auszubauen! Genau das wird aber bei den Bürgern nur zu noch mehr Euroskeptizismus führen.

Es mag sein, daß die EU nicht reformierbar ist – aber wäre es nicht besser, sie wäre es? Denn war sie nicht eigentlich einmal eine gute Idee?

Baudet: Inwiefern?

Ursprünglich wurde sie nach dem Prinzip der Subsidiarität geschaffen, also als ein Europa der Vaterländer. Konkret hieß das: Sie erledigt nur Aufgaben, die die Mitgliedsstaaten alleine nicht bewältigen konnten. Die EU ist doch nicht an sich ein Problem, sondern erst ihre Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip und ihre versuchte Mutation zum Superstaat. 

Baudet: Da irren Sie sich. Tatsächlich war der Zweck der EU von Anfang an, die nationalen Demokratien abzuschaffen – indem sie versuchte, sie nach und nach zu entmachten. Ja, die Auflösung der demokratisch-nationalen Souveränität ist ihre eigentliche Ursprungsidee. Denn Jean Monnet und die anderen Gründungsväter glaubten aus der Geschichte der Weltkriege gelernt zu haben, daß wann immer Macht greifbar ist, wie etwa auf nationaler Ebene, machthungrige Politiker sich ihrer bemächtigen. Daher müsse die Macht verschleiert und versteckt werden; sie sollte im Getriebe der EU unsichtbar werden – nicht mehr zu lokalisieren sein. Und das gelang bis zu einem gewissen Grade auch. Die Konsequenz war allerdings das Wuchern einer EU-Bürokratie, die man nicht mehr kontrollieren kann. Das aber ist die Idee der Demokratie: Macht transparent zu machen, auszubalancieren und zu kontrollieren.

Unbestreitbar ist aber doch, daß die Zusammenarbeit in der EU bis zu einem gewissen Grade ein Segen für Europa war.

Baudet: Wenn der Wille zur Zusammenarbeit besteht, dann genügt das, um zusammenzuarbeiten. Das muß man nicht in einen festen Rahmen pressen und institutionalisieren. So etwas verselbständigt sich sonst, und Sie bekommen den Moloch, den wir heute haben.

Allerdings warnen selbst konservative Intellektuelle wie etwa David Engels aus Belgien, etwa im Interview mit dieser Zeitung: „Eine Rückkehr zu 28 Nationalstaaten, welche, auf sich allein gestellt (sind)“, würde diese „zur leichten Beute auswärtiger Mächte und Interessen“ machen. Und: „Mir ist lieber, mein Sohn wächst mit Englisch als europäischer Verkehrssprache auf und weiß, daß unser Schicksal in Brüssel entschieden wird, als ihm Chinesisch oder Arabisch als erste Fremdsprache aufzuzwingen und sich gehorsam nach Peking zu richten – oder nach der Wall Street.“ 

Baudet: Sagen Sie mir: Wird etwa die Schweiz von China dominiert? Nein, ich glaube, die Quelle der Schwäche, von der Professor Engels spricht, liegt anderswo: Die kulturelle und nationale Identität in Europa ist heute von so wenig Selbstvertrauen erfüllt, daß es einen politischen Rahmen, wie ihn die EU darstellt, braucht. Aber das ist ein Irrweg. Und würden sich die Europäer selbstbewußt auf ihre traditionellen Kraftquellen besinnen, bräuchten sie sich nicht in ein imperiales Gebilde wie die EU zu flüchten. Das übrigens zudem die Negation aller europäischen Traditionen und Tugenden darstellt. Heute heißt es gerne, die Kritiker der EU seien „schlechte Europäer“ oder gar „Europafeinde“. Tatsächlich aber muß ein guter Europäer gegen diese EU sein, weil sie keineswegs das verkörpert, was Europa ausmacht, sondern im Gegenteil dessen Verneinung darstellt. Denn tatsächlich ist die EU eine Maschine zur Entmachtung der Bürger sowie – in Gestalt des Euro – zu ihrer Enteignung. Außerdem zur Zerstörung einer gesamten Generation in den südlichen Krisenländern – in Gestalt der Euro-Rettungspolitik sowie zur Masseneinwanderung. 

Aber hat die britische Pro-Brexit-Kampagne nicht gerade für mehr Zuwanderung aus Übersee statt europäischer Freizügigkeit geworben: Wird der Brexit also nun zu mehr und kulturfernerer Einwanderung nach Großbritannien führen? 

Baudet: Moment, das Argument der  Brexit-Befürworter war „Kontrolle“. Es ging nicht per se um die Frage nach mehr oder weniger oder um europäische oder außereuropäische Einwanderung, sondern darum, die Kontrolle über diese zurückzugewinnen. Und das ist auch völlig richtig. Zu welcher Art Einwanderung diese Kontrolle dann genutzt wird und welches Ausmaß die Einwanderung hat, ist eine andere Frage – über die die Regierung und Wähler dann entscheiden. Der Punkt ist, daß die Bürger sich ihr Recht zurückgeholt haben, darüber wieder politisch debattieren und abstimmen zu können. 

Aber schwächt der Austritt Großbritanniens nicht den Nationalstaat, statt ihn zu stärken, wie Sie sagen? 

Baudet: Warum?

Weil nun Nordirland und Schottland Großbritannien verlassen könnten. 

Baudet: Na und? Ihre Argumentation geht davon aus, je größer ein Land, desto besser. Aber schauen Sie sich die führenden Nationen der Welt an: Etliche davon sind sehr klein. Während sehr große Länder keineswegs zu den Führungsnationen gehören. Größe als entscheidende Voraussetzung ist eine veraltete Vorstellung – die sich allerdings in der Tat wie ein religiöses Dogma hält. 

Zurück zur weiteren Entwicklung: Wenn Frankreich die EU verließe, wäre diese tot?  

Baudet: Ja. 

Und wenn Holland austritt? 

Baudet: Dann ebenfalls. 

Warum? Holland ist klein, und solange die Achse Paris-Berlin funktioniert, hat die EU ein schlagendes Herz. 

Baudet: Im Grunde haben Sie recht. Nur: Treten die Niederlande aus, wird die Erschütterung der EU noch viel stärker sein als jetzt beim Austritt Großbritanniens. Warum? Weil anders als Großbritannien – das seit jeher als unsicherer Kantonist und Land an der politischen Peripherie der EU galt, das überdies erst sehr spät der Gemeinschaft beitrat – die Niederlande nicht nur ein EU-Gründungsmitglied sind, sondern EU-Herzland! Die Benelux-Staaten galten lange als regelrechte „Mustereuropäer“. Der Austritt Hollands würde folglich die Struktur und das Selbstverständnis der EU weit stärker erschüttern als der der Briten. Ich bin überzeugt, daß diese so groß wäre, daß die EU, anders als jetzt, irreparablen Schaden davontragen würde. Ein Austritt der Niederlande würde überall, und auch bei Ihnen in Deutschland, das Gefühl vermitteln, daß die EU am Ende ist. 

Wie könnte ein Europa ohne EU aussehen?

Baudet: Es könnte ein Europa der in Freundschaft und freiem Handel verbundenen Nationalstaaten sein.

Ist das im frühen 20. Jahrhundert nicht schon einmal schiefgegangen?

Baudet: Die Probleme begannen, als die europäischen Nationalstaaten anfingen, keine mehr sein zu wollen, sondern statt dessen bestrebt waren, sich in Imperien zu verwandeln. Das mußte scheitern, so wie alle Imperien scheitern. Als nächstes die EU, die auch ein imperiales Konzept darstellt. Ich kann nur hoffen, daß die europäischen Nationalstaaten danach aus der Geschichte lernen und auf das Erfolgsmodell Nationalstaat – ohne imperiale Ambitionen – setzen, das Europa schon einmal eine Ära ungeahnten Fortschritts und Wohlstandes gebracht hat.






Dr. Thierry Baudet, gilt als intellektueller „Shootingstar“ (Weltwoche) und „konservatives Wunderkind“ (Vrij Nederland). Der 1983 in Heemstede geborene Jurist und Historiker ist gefragter Gast in holländischen Zeitungen, Radio und Fernsehen. Er war Kolumnist des NRC Handelsblad und publizierte in Le Monde und Le Figaro. Baudet lehrte in Leiden, Amsterdam und Tilburg und war Gastdozent am Königlich-Niederländischen Institut in Rom. Heute leitet er die von ihm gegründete Denkfabrik „Forum für Demokratie“ in Amsterdam. Er veröffentlichte etliche Bücher, unter anderem 2012  „Pro Europa dus tegen de EU“ (Für Europa, deshalb gegen die EU) und 2013 „Oikofobie. De angst voor het eigene“ (Oikophobia. Die Angst vor dem Eigenen). Vor allem aber seine Studie „The Significance of Borders“ (2012) – die holländische Ausgabe heißt übersetzt „Angriff auf den Nationalstaat“ – fand Beachtung. Baudet analysiert darin die „krankhafte Abkehr von der Heimat, Bräuchen und der Nation“. 

Foto: EU-Gegner Geert Wilders und Marine Le Pen: „2017 wählen Holland und Frankreich. Gut möglich, daß die Frage nach einer Abstimmung über einen EU-Austritt Teil der Wahlkämpfe wird“