© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Den Trennstrich ziehen
AfD: Formal ist die Entscheidung im Fall Gedeon zunächst vertagt / Parteiintern wird dennoch eine zügige und klare Abgrenzung gefordert
Christian Vollradt

Ganz offensichtlich stand ihm der Sinn diesmal überhaupt nicht nach Provokation. Im Gegenteil. AfD-Vize Alexander Gauland stimmte einen nachdenklichen Ton an: „Wenn wir beim Thema Antisemitismus eine offene Baustelle haben“, warnte er seine Parteifreunde im Interview mit der Welt am Sonntag, „dann werden wir immer in großen Schwierigkeiten stecken. Und die Vorstellung, daß bei uns nun bis zum Herbst diskutiert werden soll, was Antisemitismus ist und was nicht, erfreut mich überhaupt nicht.“ Im Fall Gedeon sei er genauso wie Bundessprecher Jörg Meuthen dafür gewesen, „sofort eine klare Entscheidung für den Ausschluß zu treffen“. Weil diese Angelegenheit jedoch durch den innerparteilichen Machtkampf überlagert worden sei, habe Meuthen als Fraktionschef in Stuttgart einen Kompromiß eingehen müssen – „auch wenn ich nicht sehen kann, welche neue Wendung der inhaltlich bringen soll“, so Gauland. 

Ähnlich bewertet der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt die Situation. Die Vertagung der Entscheidung sei vielleicht das „Klügste, was sich in jener verfahrenen Lage noch erreichen ließ. Doch es war töricht, die Dinge überhaupt auf einen solchen Showdown hintreiben zu lassen“, meinte Patzelt in einem Interview für die Internetseite der JUNGEN FREIHEIT. Im Grunde besage der Beschluß zu Gedeon nur: „Wir alle tun erst einmal so, als gehöre Herr Gedeon nicht mehr zu uns; und dann sehen wir weiter.“ Patzelt bewertet das Vorgehen des Fraktionsvorsitzenden dabei durchaus kritisch: „Jörg Meuthen hat sich ebenso um bisherige Autorität gebracht wie einst Barack Obama, als der im Syrienkonflikt erst eine rote Linie zog und sich dann doch nicht traute, sie zu überschreiten. Denn wer sich durchsetzen kann, braucht keine Drohungen vom Typ ‘er oder ich’; und wer dennoch so droht, legt sein politisches Schicksal in die Hände anderer – statt es selbst zu gestalten.“ Inhaltlich entwickele sich der Fall zu einer Nagelprobe für die Partei: „Hier entscheidet sich, wie ernst es der AfD damit ist, einen Trennstrich zwischen sich und dem rechten Narrensaum zu ziehen. Antisemitismus ist nämlich eine Haltung von Narren – und überdies von Verbrechern sowie von deren Sympathisanten“, bekräftigte Patzelt. 

Zum Stand der Dinge in Stuttgart gibt sich die Fraktionsführung indes zur Zeit zugeknöpft. Aus der Pressestelle heißt es, „die Gutachterfindungskommission ist derzeit noch am Arbeiten“. Sobald die drei Gutachter gefunden seien, werde man dies bekanntgeben, sich zu möglichen Zwischenständen bei der Suche jedoch nicht äußern. Der Abgeordnete Gedeon sei nicht Teil der Kommission und dürfe folglich auch keinen Gutachter benennen. Selbst Parteimitglieder halten es allerdings für höchst unwahrscheinlich, daß man drei Experten für das geforderte Gutachten finde. 

Sogar in der Fraktion ist manchem beim Blick auf das Prozedere nicht mehr wohl. „Der Abstimmung über seinen Ausschluß aus der Fraktion ist Herr Gedeon während der Fraktionssitzung zuvorgekommen, indem er das Ruhenlassen seiner Fraktionsmitgliedschaft angeboten hat“, teilte Claudia Martin, AfD-Abgeordnete aus Wiesloch, der jungen freiheit mit. „Hätte ich gewußt, daß der Vorschlag von Herrn Gedeon gar nicht umsetzbar ist, hätte ich ihm nicht zugestimmt“, bekräftigte Martin. Ihr Kollege Bernd Grimmer widerspricht indirekt. „Natürlich war uns bekannt, daß dieser Status in den zugrundeliegenden Regelungen nicht expressis verbis vorgesehen ist“, stellte er gegenüber der JF klar. „De facto besteht der einzige Unterschied zum Ausschluß in der Rückholbarkeit, und gerade deswegen wurde der Weg gewählt“, so Grimmer. 

So positiv sieht das nicht jedes Mitglied der Südwest-AfD. Der Stuttgarter Alexander Beresowski, der selbst für den Landtag kandidiert hatte, hält die aufgeschobene Entscheidung für eine Belastung der Partei vor allem im Hinblick auf die beiden Landtagswahlen, möglicherweise sogar bis zur Bundestagswahl. „Damit wurde den Etablierten unnötige Munition gegen die AfD geliefert“, meint Beresowski im Gespräch mit der JF. „Jedem, der bei klarem Verstand ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Aussagen von Gedeon als antisemitisch zu bewerten“, ist sich das aktive Mitglied der Stuttgarter jüdischen Gemeinde sicher. Es sei bitter, dies zu erleben angesichts dessen, „was ich in diese Partei investiert habe“. Im Wahlkampf hatten Linksextreme „Steckbriefe“ gegen Beresowski verteilt und sein Wohnhaus beschmiert. „Ich kenne viele Mitglieder, die sagen: das kann ich nicht mehr vertreten. Und ich selbst sage auch: wenn Gedeon bleibt, ist das nicht mehr meine Partei“, stellt der aus Odessa stammende AfD-Politiker fest: „Gedeon zu decken konterkariert unsere Politik, angesichts der unkontrollierten Zuwanderung aus dem islamischen Raum vor einem importierten, neuen Antisemitismus zu warnen.“ Die AfD müsse sich entscheiden: „Will sie eine Partei werden (bzw. bleiben), die 25 Prozent bekommt, dann braucht es eine glaubwürdige Grenzziehung zum rechten Rand; ansonsten wird sie eine Partei werden, die unter 5 Prozent bleibt“, ist sich Beresowski sicher. 

Auch Wolfgang Fuhl, AfD-Vorstand in Lörrach und ehemaliger Vorsitzender des Oberrates der israelitischen Religionsgemeinschaften in Baden, sieht die Partei durch den Fall Gedeon insgesamt „beschädigt“. Die jetzt beschrittene Salamitaktik sei eine Katastrophe, äußert Fuhl gegenüber der jungen freiheit. „Die AfD macht es mir als jüdischem Mitglied nicht leicht: Zuerst der Parteitagsbeschluß zum Schächten – jetzt der Fall Gedeon.“ Abgesehen von diesem, so stellt Fuhl klar, sei ihm persönlich „in der AfD bei Versammlungen oder Parteitagen Antisemitismus nie begegnet“. 

Keine Zusammenarbeit    mit Identitären

Sein Kreisverband Lörrach hatte bereits Mitte Juni Gedeon in einem Brief gebeten, die Fraktion freiwillig zu verlassen und sein Landtagsmandat niederzulegen: „Wir sehen in Ihrem selbstbestimmten Rückzug die Möglichkeit, großen Schaden von der AfD und ihren Zielen für das Land und die Bürger Baden-Württembergs und Deutschlands abzuwenden.“ 

Unterdessen faßte die Parteispitze am Mittwoch vergangener Woche einstimmig einen Abgrenzungsbeschluß: „Der Bundesvorstand stellt fest, daß es keine Zusammenarbeit der Partei Alternative für Deutschland und ihrer Gliederungen mit der sogenannten ‘Identitären Bewegung’ gibt.“ Auf die Frage, ob dies nur für etwaige Veranstaltungen sowie Demonstrationen gelte oder aber weitergehend als Unvereinbarkeitsbeschluß von AfD-Mitgliedschaft und einem Engagement bei den Identitären zu verstehen sei, antwortete AfD-Pressesprecher Christian Lüth: „Letzteres ist der Fall.“