© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Beim Recht auf Heimat zurückhaltend
Regierungsfraktionen verabschieden Erklärung zum deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag
Gernot Facius

Kompromisse gehören zum politischen Geschäft. Doch manchen Kompromissen ist schon auf den ersten Blick anzusehen, daß sie einen Dissens nur vordergründig verdecken. Das gilt auch für den vorige Woche verabschiedeten Antrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD, in dem sich beide aus Anlaß des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags für eine Vertiefung der Beziehungen zwischen Berlin und Warschau einsetzen und dabei auch den Beitrag der deutschen Heimatvertriebenen für die „Aussöhnung“ erwähnen.

Ein erster gemeinsamer Text war buchstäblich im letzten Augenblick gescheitert: Union und Sozialdemokraten hatten sich nicht über die Bedeutung der Charta der Vertriebenen vom 5. August 1950 für den Versöhnungsprozeß einigen können. Der Grund: In dem Dokument ist unter anderem vom Recht auf Heimat und vom Recht auf Rückkehr in die Herkunftsgebiete die Rede – Stein des Anstoßes für SPD, Grüne und Die Linke.

Also formulierte eine Redaktionskommission einen neuen, langatmigen, etwas nebulösen Antrag, der dann bei einigen Enthaltungen aus der SPD und der Linken-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen wurde: „Der Versöhnungsgedanke wurde von den Kirchen beider Länder, den vielen in unterschiedlichen Vereinen und Verbänden organisierten Bürgerinnen und Bürgern auf beiden Seiten der Oder und von Opfern des von den Nazis entfachten Angriffskrieges in der polnischen Bevölkerung vorangetrieben. Das gilt gerade auch für diejenigen deutschen Heimatvertriebenen, die sich für Versöhnung engagierten und sich der Forderung in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 nach Gewaltverzicht besonders verpflichtet fühlten sowie den Appell für europäische Lösungen zur Richtschnur ihrer Arbeit machten.“

Dokument mit der Vision eines geeinten Europas

Allein die Reihenfolge der Aufzählung der Verständigungsinitiativen gibt einen Hinweis darauf, wie schwer sich die Großkoalitionäre mit dieser Materie taten. Gewaltsverzichtserklärung und Europa-Appell wurden herausgestellt, beim Recht auf Heimat zeigte man sich schon zurückhaltender. Man umging das historische Faktum, daß die Charta von Stuttgart mit  das erste große Nachkriegsdokument mit der Vision eines geeinten Europas war, eines Europa, „in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Die Initiatoren der Charta waren, wenn man so will, Europäer der ersten Stunde. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Verfasser der Charta „Botschafter der Versöhnung und Verständigung in Europa“. Das war 2009. Sieben Jahre später soll das nicht mehr gelten? Weil aus Sicht der Linken, Grünen und Teilen der SPD die „deutsche Schuld“ relativiert wird?

Daran ist bereits das Vorhaben gescheitert, den 5. August, an dem 1950 die Charta verkündet wurde, als nationalen Gedenktag an Flucht und Vertreibung der Deutschen zu begehen. Stattdessen erweiterte man den von den Vereinten Nationen ausgerufenen „Weltflüchtlingstag“ (20. Juni) bloß um einen Vertriebenen-Zusatz.

Verzicht auf Rache und Vergeltung

Wirklich gerecht wird man der Erklärung von Stuttgart freilich nur, wenn man sich vor Augen hält, in welcher Zeit sie – fünf Jahre nach Kriegsende – und unter welchen Umständen – Leid und Not von Millionen Entwurzelter – entstanden ist. Wären die Vertriebenen nicht zu dem in ihrer Charta festgeschriebenen Verzicht auf Rache und Vergeltung in der Lage gewesen, welche problematische Entwicklung wäre für die junge Bundesrepublik Deutschland und für Europa entstanden?

Im Bundestag hat Christoph Bergner (CDU) auf diesen Aspekt hingewiesen: „Für Deutschland war dieser Verzicht eine ungeheure Leistung.“ Eine Leistung, die heute im Parteienstreit unterzugehen droht. Die Grünen drückten sich in der Debatte um eine klare Aussage. Ihr Redner Manuel Sarrazin fand sich nur zu einem vagen Sowohl-Als-auch bereit. Seine Fraktion sehe die Erklärung von 1950 „nicht nur als Schritt in die richtige Richtung, sondern als Dokument von Radikalität und Mäßigung gleichzeitig“. Worin die Radikalität bestehen soll, ließ Sarrazin offen.

Für Bernd Fabritius (CSU), Präsident des Bundes der Vertriebenen, war die Charta neben dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag ein „Meilenstein in der deutsch-polnisch-europäischen Verständigungsarchitektur“. Den Grünen warf  Fabritius „Empathielosigkeit und ideologische Instrumentalisierung“ vor. Sie wollten die Charta mit dem darin „selbstverständlich enthaltenen Recht auf Rückkehr nach ethnischen Säuberungen in Verruf“ bringen. Das Rückkehrrecht sei für viele der derzeit rund 65 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen eine der „wenigen Quellen der Hoffnung“.

Die Charta ist eben kein „Thema aus der Mottenkiste“, wie der Linken-Abgeordnete Thomas Nord seinen Parlamentskollegen einzureden suchte. Sie bleibt auch 66 Jahre nach ihrer Verkündung aktuell.