© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Scheidungskrieg
Preußens Sieg gegen Österreich bei Königgrätz 1866 besiegelte die Trennung der beiden Mächte
Eberhard Straub

Der Krieg von 1866 ist nicht aus Notwehr gegen die Bedrohung der eigenen Existenz entsprungen“, wie Helmuth Graf Moltke rückblickend bemerkte, „auch nicht hervorgerufen durch die öffentliche Meinung und die Stimme des Volkes. Es war ein im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf nicht um Ländererwerb, Gebiets-erweiterung oder materiellen Gewinn, sondern für ein ideales Gut – für Machterweiterung.“ Es ging um die Vorherrschaft Preußens in Norddeutschland, die Österreich nicht wünschte, um weiterhin die führende Macht unter den deutschen Staaten zu bleiben.

Die beiden europäischen Großmächte hatten alles versucht, diesem auch ihnen peinlichen Krieg auszuweichen. Die meisten deutschen Fürsten ergriffen in ihm Partei für Österreich und Franz Joseph in Erinnerung an die Kaiser des 1806 liquidierten alten Reiches, die sechs Jahrhunderte lang keineswegs glücklose Repräsentanten deutscher Einheit und Einigkeit gewesen waren. Mit Ausnahme Sachsens hüteten sie sich freilich davor, auffälligen militärischen Eifer zu bekunden. Sie mißtrauten beiden Großmächten, die vom übrigen Deutschland stets verlangten, sich ihren Beschlüssen zu fügen, sobald sie einer Meinung waren. Es gelang den beiden Großmächten, ihren Kabinettskrieg, den letzten dieser Art, bald nach der Niederlage der kaiserlichen Truppen – am 3. Juli 1866 bei Königgrätz – mit dem Vorfrieden in Nikolsburg am 26. Juli zu beenden. Der kurze Krieg in Böhmen löste dennoch eine Revolution aus. 

Österreich, die ehrwürdigste Macht, schied seitdem für immer aus Deutschland aus. Es durfte sich an keinen Versuchen einer deutschen Vereinigung beteiligen, es durfte keine deutsche Politik mehr treiben. An einen deutschen Nationalstaat dachten 1866 allerdings weder Wilhelm I. noch Otto von Bismarck. Ihnen genügte es vorerst, an die preußische Macht in Europa eindrucksvoll erinnert zu haben. Sie wurden selber davon überrascht, vier Jahr später schon mit dem Deutschen Reich einer deutschen Nation den ihrem Leben passenden Rahmen zu verschaffen. Beide sahen aber ihr politisches Ideal vor wie nach 1866 im innigsten Einverständnis mit Österreich. Darin stimmten sie mit den unumstrittenen Überlegungen der liberal-revolutionären Nationalisten von 1848/49 überein, dem engeren Bund eines deutschen Nationalstaates einen erweiterten Bund mit Österreich zur Seite zu stellen. Auf den Zerfall Österreichs, ab 1867 Österreich-Ungarns, mochten deutsche Politiker gerade nicht spekulieren. Ein Nationalliberaler wie der preußische Historiker Heinrich von Treitschke fürchtete im Auseinanderfallen der Doppelmonarchie eine beispiellose Revolutionierung Europas, „die uns in unabsehbare Kriege zu verwickeln, das Gedeihen friedlicher Gesittung auf lange hinaus zu zerstören droht“.

Rückbindung an das System Metternichs

Bismarck als deutscher Reichskanzler forderte die Deutschen in Österreich, auch die begeisterten, nationalen Bismarckdeutschen dazu auf, sich zu bewußten Österreichern zu bilden, sich  nicht als unerlöste Deutsche zu fühlen und damit das Zusammenleben in ihrem Vielvölkerstaat zu gefährden. Die traditionsreiche gemeinsame Kulturnation gewährte Deutschösterreichern ja ohnehin Gleichberechtigung unter allen Deutschen und erlaubte es ihnen, deutsche Kultur in der gesamten Monarchie als Element zu verstehen, das die vielen Völker miteinander in Beziehung bringt und eine wahre Union der Gemüter und Geister bewirkt.

Bismarck erwog 1879, ein Bündnis mit Österreich-Ungarn, den erweiterten Bund, als unkündbare Allianz in die jeweiligen Verfassungen aufzunehmen, doch die beiden Kaiser widersetzten sich dieser Idee. Eine solch dramatische Verpflichtung erschien ihnen nicht notwendig. Die beiden Reiche ergänzten einander ohnehin und fanden durchaus ihren Vorteil in den neuen Verhältnissen. 

Bismarck folgte nach 1871 der Devise Metternichs, daß der Friede in Europa auf einem Gleichgewicht in Mitteleu-ropa beruhe, auf der Einigkeit Preußens oder jetzt des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns, die wiederum eine entente cordiale mit Rußland unterhielten. Diesen Bund der drei Kaiser ergänzten Verträge mit Italien. Nach den erstaunlichen Umbrüchen mitten in Europa im Zusammenhang der italienischen und deutschen Einigungsbewegung erwies sich diese Revolution nicht als Katastrophe für Europa. Sie erlaubte eine konservative Rückbindung zum bewährten europäischen System Metternichs und die Wiederherstellung der seit dem Krimkrieg 1854–56 gestörten Ordnung in Europa. Für das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn brach im Schutz des allgemeinen Friedens, den gerade ihre enge Zusammenarbeit sicherte, eine Zeit erstaunlichster Entwicklungen in allen geistigen und materiellen Gebieten an.  

Schon im Februar 1867 faßte Johann Strauss das Lebensgefühl froher Erwartung in den Versen zu seinem neuen Walzer zusammen, mit dem er an der schönen, blauen Donau daran erinnerte, daß alles fließt. „Drum trotzet der Zeit! / O Gott die Zeit! / Was nutzt das Bedauern, / Das Trauern! / Drum froh und heiter seid!“

Sir Robert Morier, der britische Gesandte am Darmstädter Hof, vermutete sofort, daß die Niederlage gar kein Unglück für Österreich bedeuten müsse. Eine gewisse Distanz zu Deutschland könne vielerlei Energien wecken, um zu einer wirklich überzeugenden Großmacht zu werden, welche aus eigener Substanz lebt, ohne deshalb auf deutsche oder italienische Anregungen verzichten zu müssen. Die Ringstraße, deren erster Abschnitt 1867 eröffnet wurde, ist das Symbol für das neue, eben österreichische Österreich. Je österreichischer die Donaumonarchie wurde, desto mehr zog sie die Deutschen an und gewann darüber einen erheblichen Einfluß auf Deutschland, den sie in solcher Intensität früher gar nicht ausgeübt hatte. Wien blieb nicht nur, was es immer schon war, die einzigartige Hauptstadt des guten Geschmacks mit einer weltläufigen vornehmen Gesellschaft. Wien wurde nun auch zu einer Stadt der Wissenschaften und sämtlicher Künste, eine Weltstadt des Geistes, die selbstbewußt die Norddeutschen herausforderte, nicht zuletzt die Unfehlbarkeiten am grünen Strand der Spree. 

Ohne Wien und Österreich wären die Reichsdeutschen recht versponnene Provinzler geblieben. Sie durften unter keinen Umständen Triest, Prag, oder Budapest, Agram, Lemberg, ja nicht einmal das ferne Czernowitz vernachlässigen, wollten sie nicht riskieren, den Anschluß an aufregende Tendenzen und Ideen zu verlieren. Die deutsche Kultur empfing aufgrund der österreichischen Dynamik eine erstaunliche Weite. Sie wurde über die geistig belebenden Wirkungen, die aus Österreich-Ungarn kamen, hineingezogen in eine mitteleuropäische Weltkultur. Deren Latein als Reichssprache war die deutsche Sprache, die jeder beherrschten mußte, der sich wie der Fisch im Wasser in diesem Kulturraum als einem ihm bequemen Element frei bewegen wollte. Der Austausch blieb nicht einseitig, denn die „Kakanier“ aus allen Städten der Monarchie reisten ebenso in die sonderbarsten deutsche Orte, um sich dort mit ungewohnten Bestrebungen vertraut zu machen.

Deutsche im Reich oder in Österreich-Ungarn waren im übrigen noch nicht sprachlos geworden; sie eigneten sich die Sprachen der anderen Völker an, mit denen sie sich, einander ergänzend, vermischten. Im Mitteleuropa vor 1914 mußte Europa nicht dauernd als Auftrag und Chance beschworen werden. Wien, das neue Rom in einem großen Reich vieler Völker, sorgte wie einst das alte Rom dafür, daß alle Städte die prächtige Ausstattung erhielten, die sie zu einem kleinen Wien, eben zu einer richtigen Stadt machten. In der Francisco-Josephinischen Epoche nach 1866 bemerkten die Deutschen, wie sehr sie auf Österreicher angewiesen waren und sich von ihnen gar nicht trennen konnten, ohne sich selber zu schaden. 

Der Nationalismus führte in einen weiteren Weltkrieg

Nach dem gemeinsam verlorenen Ersten Weltkrieg, der Zerstückelung  Österreich-Ungarns und einem Frieden, der von vornherein den Keim zu weiteren Kriegen enthielt, verlangten die Reichsdeutschen und die Deutschösterreicher stürmisch nach „Wiedervereinigung“, die ihnen die Sieger verboten. In dem Überbleibsel eines großen Reiches aus der Welt von gestern strebten nach 1918 vor allem Sozialisten in das Land Kants, Hegels, der idealistischen Aufklärung und deren kritischen Vollender Marx und Engels, das sie als ihre politische und geistige Heimat betrachteten.

Österreichische Patrioten unter Katholiken und kaisertreuen Legitimisten warben hingegen ab 1933 im christlichen Ständestaat für ein Heiliges Österreich als Nachhall des Heiligen Römischen Reichs. Ihr Österreich sollte ein Modell für das künftiges, für das wahre Deutschland sein, dessen Erbe die Nationalsozialisten verrieten oder mißbrauchten. Auch ihr Österreich war selbstverständlich ein deutsches, freilich besseres Österreich. Der Nationalismus mit den Begehrlichkeiten der vom Krieg und Frieden Enttäuschten führte in einen weiteren Weltkrieg Deutschland und das gesamte Mitteleuropa in die Katastrophe. 

Nach 1945 schieden sich endgültig Deutsche und Österreicher. Sie leben seitdem nebeneinander her in der Herzlichkeit, die der Tourismus ohne Sprachschwierigkeiten ermöglicht. Die Österreicher haben indessen zu einem Nationalbewußtsein gefunden. Sie sind Österreicher ohne Heimweh nach einer fernen Geschichte, nicht einmal nach der Geschichte der Donaumonarchie. Sie genießen in ihren Bundesländern die Welt als Heimat. Denken sie sich an Feiertagen ins Weite, dann mit freundlichen Redensarten vom Westen und „unserer“ europäischen Wertegemeinschaft. Darin gleichen sie den Deutschen als Westdeutschen wie ein Zwilling.

Deutschland wiederum kommt sich sehr mondän vor, weltoffen und welthaltig. Doch es ist endgültig als Westdeutschland Provinz geworden. Mitteleuropa fehlt und wird nicht einmal vermißt. Die Deutschen schmoren im eigenen Saft, schlecht gelaunt oder vorlaut, meist beides zur gleichen Zeit. Sie haben kein Hinterland mehr wie einst zusammen mit Österreich-Ungarn. Sie sind zu Fremden in Mitteleuropa, in Europa überhaupt geworden, seit sie etwas sein wollen, was sie nie waren, nämlich Westeuropäer und nur noch Westdeutsche.

Foto: Siegesfeier in Berlin am 20. September 1866, Holzstich nach einer Zeichnung von Ludwig Burger; Friedensvertrag zwischen Österreich und Preußen vom 23. August (o.): König Wilhelm und von Bismarck genügte es, an die preußische Macht in Europa eindrucksvoll erinnert zu haben