© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

„Ratlos, ungläubig, hilflos“
Die Theorie des Liberalismus wird von der weltweiten „gewalttätigen Unordnung“ und der neoliberalen Weltunordnung widerlegt
Oliver Busch

Als der US-Philosoph John Rawls im November 2002 gestorben war, ließ sich an der großen Aufmachung der Nekrologe und ebenso an der Prominenz von Nachrufern wie des Fachkollegen Otfried Höffe ablesen, daß man hier offenbar mit diesem angelsächsischen Theoretiker der „Gerechtigkeit“ auch eine intellektuelle Galionsfigur der alten Bundesrepublik verabschiedete. 

Für die stark von Jürgen Habermas abhängige, auf „Menschenrechte“ und „transnationale Gerechtigkeit“ fixierte Gießener Politologin Regina Kreide ist hingegen vom Renommee des Harvard-Professors wenig übriggeblieben. Denn im Vergleich mit den neunziger Jahren, als die von Rawls wesentlich mitgestaltete Vision einer demokratischen One-World-Ordnung und nach dem „Ende der Geschichte“ Kants alter Tagtraum vom „ewigen Frieden“ ebenso wahr zu werden schienen, wirkten die theoretischen Werkzeuge des Liberalismus in unserer von Krisen und Kriegen gekennzeichneten Gegenwart so dürftig, „als wolle man einen Flächenbrand mit einer Wasserpistole einhegen“ (Mittelweg 36, Heft 2/2016).

Neoliberale Wirtschaftspolitik habe binnen zweier Jahrzehnte nicht nur Rawls‘ Puppenheim-Ideale bürgerlicher Gleichheit und Gerechtigkeit zerstört. Auch seine realitätsfernen Vorstellungen eines völkerrechtlich erzwingbaren Umbaus „belasteter Gesellschaften“ („Schurkenstaaten“) zu Demokratien hätten angesichts der internationalen „gewalttätigen Unordnung“ offenkundig Schiffbruch erlitten und nehmen sich aktuell „ratlos, ungläubig, hilflos“ aus. Nicht zuletzt deshalb, weil seine Axiome kein analytisches Potential böten, um neue Konfliktkonstellationen zu erfassen. 

Dieses Unvermögen trat zuerst zutage, als Rawls’ Postulat, das Völkerrecht sei der „beste Garant für globalen Frieden und Gerechtigkeit“, sich als durchsichtige Legitimationsideologie des völkerrechtswidrigen US-Interventionismus im Nahen Osten entpuppte. Als „einziges Mittel“, um dort „wohlgeordnete Gesellschaften“ mit „überzeugender Verfassung“ und „Akzeptanz grundlegender Menschenrechte“ herzustellen, hatte ausgerechnet eine sich humanitaristisch gerierende politische Theorie den  „gerechten Krieg“ empfohlen.

Moralischer Glaube lasse sich kaum irritieren 

Als weitere Ursache liberaler Denkblockaden macht Kreide aus, daß Rawls und seine Anhänger nie die soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Theorie beachtet hätten, um ihre normativen Ideale zu reflektieren. Folglich verlören sie den Bezug zur gesellschaftlichen Praxis. Nicht verwunderlich daher, wenn sich ihr moralischer Fortschrittsglaube, dem zufolge die Menschheit automatisch auf ewigen Frieden, Freiheit und globale Gerechtigkeit zusteuere, von gegenläufigen Entwicklungen nicht irritieren lasse. Durch Interventionen induzierte Krisenverschärfungen zwischen Damaskus und Kabul könnten aus dieser Perspektive konsequent nur als „vorübergehende Rückschritte“, als „Stolpern“ auf dem Siegeslauf in die bessere Welt wahrgenommen werden.

Schließlich markiert Kreide noch einen „dritten blinden Fleck des Liberalismus“: die Ignoranz gegenüber den „Ungerechtigkeiten des Kapitalismus“. Von ihren widersprüchlichen Annahmen her – wenig schlüssig wollte der späte Rawls sogar noch Freiheit und Marktsozialismus in Einklang bringen – gebe liberale Theorie keine Antwort auf die Frage, wie sie etwa „Ausbeutungsverhältnisse der globalen Service-Industrie“, denen allein 6,5 Millionen Philippinnerinnen in den Haushalten des globalen Nordens ausgeliefert sind, oder „kulturelle Ökonomisierungen“, die mit der Privatisierung öffentlicher Leistungen umgesetzt würden, aufheben wolle. 

Für den vielfach geforderten entorteten „flexiblen Menschen“ des Servicekapitalismus, dem keine Zeit bleibe, sich lokal zu vernetzen und politisch aktiv zu werden, klinge das liberale Freiheitsversprechen daher genauso hohl wie für die Armen Boliviens, denen man ihr Gemeinschaftsrecht auf Wasser durch neokoloniale „Privatisierung“ entziehe. Da liberale Theorie zu solchen Phänomenen schweigen müsse, stehe sie heute „angemessener Theoriebildung“ nur noch im Wege.