© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler


Dieser Streifzug ist unter dem Eindruck starker Rückenschmerzen entstanden. Aber keine Sorge, das hier wird kein Klagelied. Allerdings auch keine Lobpreisung des Schmerzes als großen Lehrmeister des Lebens, wie sie Dichter und Denker immer wieder über die Jahrhunderte hinweg angestimmt haben. Die Kolonne reicht von Aristoteles („Leiden der Seele“) über Immanuel Kant, der unter einer Krümmung der Wirbelsäule gelitten und „Ja zum Schmerz“ gesagt haben soll, und Martin Heidegger, der im Schmerz einen „Zugang zum Grundriß des Seins“ sah, bis noch nicht zuletzt zu Ernst Jünger („Sinngehalt des Lebens“). Der Schriftsteller Siegfried Lenz plagte sich mit Arthrosis deformans, einer chronischen, degenerativen Gelenkerkrankung, die ihm Bewegungseinschränkungen und vor allem „irrsinnige“ Schmerzen bescherte. Kurz vor seinem 75. Geburtstag 2001 sagte er der Rheinischen Post: „Die Nervenstränge werden eingeklemmt. Und das verursacht Schmerzen, die, möchte ich mal sagen, eine literarische Qualität haben.“


In Ernst Jüngers Essay „Über den Schmerz“ (1934) heißt es: „Nichts ist uns gewisser  und vorbestimmter als eben der Schmerz; er gleicht einem Mahlwerk, das das ausspringende Korn in feineren und tieferen Gängen erreicht, oder dem Schatten des Lebens, dem man sich durch keinen Vertrag entziehen kann.“ Anderthalb Jahrhunderte zuvor dichtete Johann Wolfgang von Goethe in dem Bühnenstück „Iphigenie auf Tauris“ (1787): „Die Schmerzen sind’s, die ich zu Hilfe rufe,/ Denn es sind Freunde, Gutes raten sie.“ Und in dem Trauerspiel „Die natürliche Tochter“ (1803) läßt Goethe den Weltgeistlichen sagen: „So tiefer Schmerzen heiße Qual verbürgt dem Augenblick unendlichen Gehalt.“


Alle philosophische respektive literarische Aneignung und Überhöhung des Schmerzempfindens kann nicht darüber hinwegtäuschen: Schmerz ist Mist! Was, bitte schön, außer Banalitäten soll Schmerz uns lehren? Wenn du Zahnschmerzen hast, geh’ zum Zahnarzt. Wenn du Kopfschmerzen hast, wirf’ ein Aspirin ein. Wenn du Rückenschmerzen hast, bewege dich. Oder suche einen Orthopäden deines Vertrauens auf. Sinnstiftung? Von wegen, keine Spur. Nein, allen Dichtern und Denkern zum Trotze: Schmerz ist mitnichten „der große Lehrer der Menschen“, unter dem sich die Seelen entfalten, wie die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach meinte. Das ist nichts weiter als Schönfärberei. Noch einmal zum Mitschreiben: Schmerz ist Mist!