© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Der Mittelstand – Kern deutschen Wirtschaftslebens
Einzigartig in der Welt
Markus Brandstetter

Immer wenn amerikanische, britische oder französische Meinungsforscher eine Umfrage machen und ihre Landsleute befragen, wie die Deutschen aus ihrer Sicht denn so seien, dann kommt dabei stets dasselbe heraus, und das lautet in etwa so: Die Deutschen sind direkt, fleißig, pünktlich, sie lieben Regeln, Organisationen und Strukturen, aber mit menschlicher Wärme, Spontanität und emotionaler Nähe haben sie es weniger. Diese impressionistischen Einschätzungen der Deutschen müssen dann nicht selten auch als Erklärungen für die weltweit bewunderten Leistungen der deutschen Wirtschaft herhalten.

Aber stimmt das wirklich? Ist die deutsche Wirtschaft so dynamisch, innovativ und wachstumsstark, sind deutsche Unternehmen und ihre Produkte deshalb auf der ganzen Welt beliebt und gefragt, weil die Menschen, die sie leiten und die Mitarbeiter, die bei ihnen arbeiten, pünktlich, strukturiert und gut organisiert sind – wenn auch emotional ein bißchen unterkühlt? Auf den ersten Blick klingt das natürlich schmeichelhaft: Die deutsche Wirtschaft ist deshalb so toll, weil die Deutschen so toll sind. Aber wenn dies so wäre, dann müßte man im Umkehrschluß natürlich fragen: Und wie produzieren die Briten exzellente Hi-Fi-Lautsprecher, die Franzosen exquisite Parfums und die Italiener die weltbesten Anzugsstoffe, obwohl sie doch – in ihrer eigenen Einschätzung – nicht so strukturiert, organisiert und analytisch kühl sind wie die Deutschen?

Nein, allein am Sozialcharakter, so wie ihn der Psychoanalytiker Erich Fromm einmal definiert hat, kann es nicht liegen. Der ist nämlich wissenschaftlich gar nicht trennscharf zu fassen. Gewiß spielen die Organisationsstrukturen der deutschen Gesellschaft, das Rechtssystem, die ordoliberale Marktwirtschaft und sicher auch individuelle Strebsamkeit, Fleiß und schiere harte Arbeit eine Rolle, eine bedeutende sogar – aber das allein ist es nicht. 

Nein, das Fundament, mit dem die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft steht und fällt, das ist der deutsche Mittelstand, das duale Ausbildungssystem und – aber das ist durch Einheitsschulen und die permanente Verwässerung der akademischen Ansprüche bedroht  – das Gymnasial- und Hochschulsystem. 

Wenn die Deutschen in puncto Wirtschaft etwas haben, das kein anderes Land auf der Welt hat, dann ist es der deutsche Mittelstand und hier wieder ganz besonders die „Hidden Champions“ (versteckte Meister), wie die allerbesten deutschen Mittelständler auch genannt werden. Wer sind die Hidden Champions, was tun sie und warum sind sie für die deutsche Wirtschaft so wichtig?

Die Hidden Champions – der Ausdruck stammt vom dem emeritierten Wirtschaftsprofessor Hermann Simon, der das Standardwerk über sie verfaßt hat – sind die heimlichen Weltmeister der Wirtschaft, die stillen Stars der deutschen Industrie, die Unternehmen, die zur Hälfte für das deutsche Exportwunder verantwortlich sind und maßgeblich für Arbeit, Wohlstand und Steuereinnahmen sorgen. „Versteckt“ nennt Professor Simon sie deshalb, weil sie kaum einer kennt, obwohl bei ihnen allein in Deutschland 1,5 Millionen Menschen arbeiten, also kaum weniger als bei den deutschen Dax-Konzernen, die jeden Tag in der Presse auftauchen. Diese stillen Stars der deutschen Wirtschaft haben drei Kennzeichen: Sie mischen auf ihren Märkten weltweit ganz vorne mit, ihr Jahresumsatz liegt unter drei Milliarden Euro, trotzdem sind sie der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Die Brandbreite dieser Unternehmen ist erstaunlich. In Island zum Beispiel nennt man einen guten Mechaniker einen „Baader-Mann“, weil er vermutlich an einer deutschen Baader-Anlage ausgebildet wurde. Baader ist der führende Anbieter von Fischverarbeitungsanlagen und hat auf der Welt einen Markanteil von 80 Prozent. Jeder, der schon einmal Fischstäbchen, Bratheringe oder einen Rollmops gegessen hat, kann davon ausgehen, daß der auf einer Baader-Anlage entgrätet und filetiert wurde. Fast jeder Mensch besitzt ein Handy oder einen Computer mit Flachbildschirm. Handys und Bildschirme werden kaum noch in Deutschland erzeugt, die in allen Bildschirmen enthaltenen Flüssigkristalle jedoch kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Firma Merck in Darmstadt. Ein Stau auf der Autobahn hat oft mit Bauarbeiten zu tun, und meist wird dann die alte Fahrbahndecke abgefräst. Dies geschieht auf der ganzen Welt mit den Maschinen der Firma Wirtgen aus dem kleinen Ort Windhagen in Rheinland-Pfalz.

Kein anderes Land kann eine solche Produktpalette bieten, die deutschen Unternehmen sind die Weltmeister der Nischenproduktion, die Könige der Automatisierung, die Vorreiter bei Industrierobotern und integrierten

Fertigungsstraßen. 

Wer jetzt denkt, daß der Mittelstand nur Maschinenbau und Technologie kann, der irrt. Der Mittelstand kann und fertigt fast alles. Am Anfang einer Oper steht zuerst einmal nicht die Ouvertüre, sondern der geschlossene Vorhang. Erst wenn der aufgeht, fängt die Oper an. Damit der Vorhang sich aber auch wirklich vor jeder Aufführung hebt – was eine hochmoderne Maschinerie verlangt –, haben sich praktisch alle Opernbühnen und Theater auf der Welt für Vorhänge der Firma Gerriets aus Freiburg entschieden. Manch einer trinkt nach der Oper gerne ein Glas Bier. Das wird mit Hopfen gebraut, und der kommt bei einem Drittel aller Biere auf der Welt von der Firma Barth aus Nürnberg, dem weltgrößten Anbieter von Hopfen-Produkten.

Wer mit einer Achterbahn fährt, will zwei Dinge verbinden: prickelnden Nervenkitzel mit maximaler Sicherheit. Damit das Vergnügen nicht auf Kosten der Sicherheit geht, haben sich 500 Vergnügungsparks für das Ingenieurbüro Stengel in München entschieden, das alle großen Achterbahnen der Welt konstruiert hat. Weiter geht es mit Tieren und Skeletten. Das Lieblingsfutter der meisten Aquarienbesitzer kommt von der Firma Tetra aus Melle bei Osnabrück, die ausrollbaren Hundeleinen für fast alle Hunde produziert Flexi in Bargteheide, und Kunststoffskelette zu Lehrzwecken stammen in der Regel von 3B Scientific in Hamburg.

Jedes Auto hat ein Kennzeichen, und das kommt meist von der Firma Utsch in Siegen – und zwar in 120 Ländern der Welt. Alltagsgegenstände wie Reißnägel oder Büroklammern braucht jeder einmal. Herstellen tut sie praktisch immer Rolf Gottschalk aus Arnsberg im Sauerland, am Tag etwa zwölf Millionen Stück davon. Wer fliegt, dessen Gepäck wird vor dem Abflug durchleuchtet. Die Röntgenapparate für Gepäck und Fracht stammen in 150 Ländern auf der Welt von Smiths Heimann in Wiesbaden. Den Burda-Verlag kennt jeder, aber wer weiß schon, daß die Modezeitschriften des Verlages Aenne Burda in 17 Sprachen und über 90 Ländern erscheinen und seit 1961 Weltmarktführer sind? Diese Liste ließe sich mühelos fortsetzen.

So sehr haben die deutschen Mittelständler und ihre Produkte die Märkte der Welt durchdrungen, daß ihre Firmennamen in den Wortschatz mancher Sprachen eingegangen sind. Etwas mit hohem Druck reinigen heißt auf französisch „karchériser“, und dahinter verbirgt sich nichts anderes als die französisierte Form des Firmennamens Kärcher, des Weltmarktführers bei den Hochdruckreinigern. Das Maß aller Dinge bei Industrie-Steckverbindern ist die Firma Harting aus Minden, und wenn irgendwo auf der Welt Ausschreibungen gemacht werden, dann steht da oft: „Harting oder gleichwertig“.

„Deutschland“, hat Hans-Werner Sinn, der frühere Leiter des Münchener Ifo-Instituts, einmal gesagt, „ist der Kaufladen der Welt“. In erster Linie bei den Industrieprodukten, aber auch die Hersteller von Konsumgütern brauchen sich vor niemandem zu verstecken. Kein anderes Land kann eine solche Vielfalt in der Produktpalette bieten wie Deutschland. Die deutschen Unternehmen sind die Weltmeister der Nischenproduktion, die Könige der Automatisierung, die Vorreiter bei Industrierobotern und integrierten Fertigungsstraßen.

Vielleicht sollten die Politiker und die Teile der Gesellschaft, die vor lauter Abneigung gegen Leistung, Arbeit, Traditionen und Nationalstaat den Blick auf das große Ganze verloren haben, sich einmal überlegen, daß auch sie auf dem Ast des Mittelstands sitzen.

Wie sieht der idealtypische „Hidden Champion“ aus? Er hat 2.000 Mitarbeiter, einen Jahresumsatz von 325 Millionen Euro, wurde vor 50 Jahren gegründet, stellt Industriegüter her, ist Weltmarktführer auf einem ziemlich engen Gebiet, kann hohe Preise verlangen, verdient exzellent, erfindet beständig neue Sachen, genießt größte Kundenzufriedenheit und wird vom Sohn oder Enkel des Gründers schlank, persönlich und im positiven Sinne aggressiv geführt. Genau 1.307 solcher Unternehmen gibt es in Deutschland – mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Warum sich diese Firmen in Deutschland konzentrieren und andere Länder so wenig davon haben (Frankreich beispielsweise 75, Spanien elf, Australien zehn), hat seine Gründe in der deutschen Geschichte. Der erste Grund ist das, was deutsche Wirtschaftsliberale ein halbes Jahrhundert lang als einen riesigen Nachteil ansahen: die vor der Reichsgründung von 1871 bestehende deutsche Kleinstaaterei, welche eine frühe Entstehung von Großbetrieben verhinderte, die Entwicklung kleiner, technisch kompetenter Nischenspezialisten – nicht selten mit Unterstützung adeliger Landesherren – jedoch begünstigte. Einen weiteren Faktor stellt die im mittelalterlichen Zünftewesen wurzelnde duale Ausbildung dar – also die Verbindung von Lehre und Berufsschule mit Gesellen- und Meisterprüfung.

Aber es gibt auch andere Gründe, zum Beispiel die im 19. Jahrhundert überall im Reich gegründeten Realschulen, die polytechnischen Hochschulen und ganz allgemein Deutschlands später Start an die wirtschaftliche Weltspitze, der über Qualität und technische Innovationen ging und nicht, wie im Falle Spaniens oder Großbritanniens, über Handel und Kolonien.

Der Mittelstand ist der eigentliche Garant des deutschen Wohlstands. Ohne ihn läuft in Deutschland gar nichts. Kleinere und mittlere Unternehmen tätigen 40 Prozent aller Umsätze in der Wirtschaft, beschäftigen 60 Prozent aller Arbeitenden und bilden 83 Prozent aller Lehrlinge aus. Und natürlich zahlen die Mittelständler auch die meisten Steuern von allen Unternehmen. Jedes Jahr schaffen diese Unternehmen etwa 100.000 neue und bestbezahlte Arbeitsplätze; in den vergangenen zehn Jahren haben sie also eine Million neuer Stellen geschaffen, während die Dax-Unternehmen im selben Zeitraum rund 200.000 Arbeitsplätze abgebaut haben.

An jedem guten Arbeitsplatz im Mittelstand hängen mindestens zehn Gewerbe dran, die dabei mitverdienen. Der Ingenieur mit einem Jahresgehalt von 100.000 Euro baut ein Haus, kauft Autos, Möbel, Sportgeräte und Computer und bezieht Dienstleistungen aus der Region – vom Friseur über den Gärtner bis zu Ärzten, Rechtsanwälten und Steuerberatern.

Überall, wo Geld verdient wird, kassiert natürlich der Fiskus kräftig mit. Ohne die „versteckten Meister“ hätten ganze Landstriche viel weniger Geld zur Verfügung; in Mecklenburg-Vorpommern, wo es kaum Champions gibt, können sie ein Lied davon singen. Ohne das vom deutschen Mittelstand erwirtschaftete Steueraufkommen könnte Deutschland niemals ein Viertel des gesamten EU-Haushaltes finanzieren und Millionen von Migranten auf Jahre hinaus alimentieren. Im Mittelstand werden in der Hauptsache die Gelder erwirtschaftet, mit denen Politiker und EU-Bürokraten später so sorglos umgehen.

Der Mittelstand ist der sprichwörtliche Ast, auf dem alle sitzen – auch grüne Politiker, Hartz-IV-Empfänger und Migranten. Vielleicht sollten die Politiker und die Teile der Gesellschaft, die vor lauter Abneigung gegen Leistung, Arbeit, Traditionen und Nationalstaat den Blick auf das große Ganze verloren haben, sich einmal überlegen, daß auch sie auf diesem Ast sitzen.






Markus Brandstetter, Jahrgang 1961, arbeitet als Coach und Finanzspezialist in der Mittelstandsberatung. Er ist Autor eines Buches über Kreditsicherheiten.

Foto: Ergebnis unserer nationalen Geschichte – der deutsche Mittelstand: Der typische Betrieb hat 2.000 Mitarbeiter, einen Jahresumsatz von 325 Millionen Euro, wurde vor 50 Jahren gegründet, stellt Industriegüter her, ist Weltmarktführer auf einem engen Gebiet, kann hohe Preise verlangen, verdient exzellent, erfindet beständig Neues, genießt größte Kundenzufriedenheit und ist im Familienbesitz. 1.307 solcher Unternehmen gibt es bei uns – mehr als irgendwo sonst.