© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Hauptressource ist nicht mehr der Mensch
Krieg im industriellen Zeitalter: Der Wandel der wirtschaftlichen Grundlagen der Kriegführung (Teil 1, Die Entwicklung vor 1914)
Dag Krienen

Der Sieg in einem Krieg fiel bislang in der Regel dem zu, der über die größeren Streitkräfte verfügte. Zwar zählte niemals allein die Zahl der Soldaten und ihrer Waffen. Bessere Ausrüstung, Kampfmoral und Ausbildung sowie Führungskunst, Überraschung und Glück verhalfen gelegentlich auch der schwächeren Partei zum Siege. Das konnte geschehen, wenn die an sich stärkere Partei schrittweise oder durch einen präzis sitzenden Schlag niedergerungen wurde oder sie trotz weiter bestehender Überlegenheit den Willen zur Fortführung des Krieges verlor, da ihr die finanziellen oder politischen Kosten für eine Fortsetzung des Krieges zu hoch erschienen.

Doch im allgemeinen galt: War der stärkere der Kriegsgegner zu den nötigen Opfern bereit und vermied er die größten Dummheiten, trug er in der Regel den „Endsieg“ davon. Als Beispiel kann der Vormarsch Ulysses S. Grants im Amerikanischen Bürgerkrieg gegen die Armee der Konföderierten unter Robert E. Lee ab 1863 gelten. Lee hatte zuvor jeder Unionsarmee, die nach Süden vorgedrungen war, eine Niederlage bereitet. Grant erging es zunächst nicht viel anders. Seine Truppen mußten mehrfach schwere Schlappen einstecken, doch anders als seine Vorgänger zog sich Grant nach einer solchen nicht wieder in den Norden zurück. 

Denn selbst wenn seine Armee ein Mehrfaches an Verlusten als die Lees erlitten hatte, blieb er weiterhin der Stärkere bzw. konnte seine Ausfälle leichter ausgleichen als sein Gegner. Jedesmal setzte der im Norden bald als „Blutsäufer“ verschrieene Grant nach kurzer Zeit seinen Vormarsch wieder fort und zwang schließlich 1865 Lee zur Kapitulation.

Der Sieg des Stärkeren ist der Regelfall der Kriegsgeschichte. Und der Stärkere ist immer der gewesen, der die größeren personellen und materiellen Ressourcen für die Kriegführung bereitstellen konnte, wenn nicht zu Beginn des Konflikts, so doch in seinem Verlauf. Die Grundlagen militärischer Stärke änderten sich allerdings im Verlauf der Geschichte immer wieder. Im vorindustriellen Europa des 17. und 18. Jahrhunderts hing sie vor allem von der Fähigkeit der Staaten ab, die finanziellen Mittel zur Bezahlung der Söldnerheere, auch der stehenden, und ihrer Ausrüstung aufzubringen.

Die bloße Größe ihres Territoriums und ihrer Bevölkerung allein waren nicht ausschlaggebend, schon eher der Entwicklungsstand der besteuerbaren heimischen Gewerbe und der Landwirtschaft und noch mehr die Art ihrer sozialen Organisation, die Qualität ihrer Finanzverwaltung sowie die Bereitschaft, einen Großteil der Einkünfte ins Militär zu stecken. Dies erlaubte auch relativ kleinen und bevölkerungsarmen Staaten wie Schweden oder Preußen gelegentlich, die Rolle einer Großmacht zu spielen. 

Ähnliches gilt für den sehr lukrativen Handel mit Übersee, der ebenfalls eher kleine, aber seemächtige Staaten wie die Niederlande in die Lage versetzte, eine Zeitlang in Europa eine bedeutende Rolle zu spielen. Dem ursprünglich randständigen England gelang es als See- und Handelsmacht sogar, dauerhaft zur Groß- und Weltmacht aufzusteigen, die durch massive Zahlungen von Hilfsgeldern (Subsidien) an ihre jeweiligen Verbündeten die Geschicke Europas kontrollierte. 

Versorgung der Streitkräfte bedurfte industrieller Basis

Die im Zuge der Französischen Revolution ab 1790 eingeführte Wehrpflicht für einen mehr oder minder großen Teil der männlichen Einwohner ließ indes das „Menschenmaterial“ deutlich billiger und die Armeen, gemessen an der Zahl der Gewehrträger, immer größer werden. Der Umfang der Bevölkerung eines Staates wurde damit zu einer der wichtigsten Quellen militärischer Stärke. Es war kein Zufall und nicht allein dem militärischen Genie Napoleons zu danken, daß Frankreich, damals die bevölkerungsreichste Nation Europas, von 1790 bis 1815 zeitweise nahezu den gesamten Kontinent beherrschte. 

Allerdings führte bald darauf die sich von England aus verbreitende industrielle Revolution zu einer weiteren Änderung. Zunächst war es weniger die Fähigkeit zur massenhaften Fertigung von Waffen, die sich bemerkbar machte, sondern die sich rasch wandelnde Waffentechnik. Waren noch die napoleonischen Kriege zu Lande und zur See mit nahezu denselben Waffen ausgefochten worden, die es schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts gegeben hatte, änderte sich das nun drastisch. Beispielsweise wurde binnen fünfzig Jahre die Vorderladerbüchsen mit Steinschloß vom Perkussions-Vorderlader, dieser vom einschüssigen Hinterlader und dieser vom mehrschüssigen Repetiergewehr abgelöst und durch das Maschinengewehr ergänzt. 

Im 19. Jahrhundert gab es nur begrenzte Duellkriege

Es wurden nicht nur die vorhandenen Waffen im schnellen Tempo durch neue, technisch bessere ersetzt, es kamen auch immer neue Arten von militärischen Gerätschaften hinzu. Die Streitkräfte wurden zu immer komplexeren Gebilden, deren Versorgung mit Kriegsmaterial einer breiten industriellen Basis bedurfte. Die Fähigkeit zur erfolgreichen Kriegführung auf der Höhe der Zeit wurde zum Privileg der industrialisierten Staaten, wobei die Großmächte ihren Stolz darin legten, in der Lage zu sein, ihre Arsenale stets mit den Produkten der heimischen Wirtschaft auffüllen und auf Waffenimporte verzichten zu können. 

In Europa wurde bei allem Konservatismus der Militärs die Bedeutung der industriellen Entwicklung für die stete waffentechnische Innovation und die ausreichende Versorgung der eigenen Streitkräfte durchaus erkannt. Weit weniger Beachtung fand die damit gegebene Fähigkeit zur gesteigerten Massenproduktion von militärischem Gerät im Kriegsfalle und über lange Zeit hinweg. Denn von 1815 bis 1914 fand hier kein großer allgemeiner Krieg aller Großmächte statt, sondern nur einige zeitlich und räumlich begrenzte Duellkriege zwischen einzelnen Mächten mit begrenzten Zielen, die nicht bis zur totalen Erschöpfung ausgefochten wurden. 

Eine vollständige Mobilmachung der jeweils eigenen industriellen und wirtschaftlichen Ressourcen war dabei nie notwendig. Die Zahl der mobilisierbaren Soldaten galt deshalb zu Beginn des 20. Jahrhundert weiterhin als der wichtigste Maßstab der militärischen Stärke eines Landes. Gravierende Unterschiede in der technischen Qualität der Waffen der europäischen Großmächte existierten nicht, auch bei der Ausrüstung der Verbände mit bestimmten Waffentypen gab es bis 1914 kaum nationale Unterschiede.

Die Lehren aus dem amerikanischen Sezessionskrieg 1861 bis 1865 wurden nicht gezogen. Dieser ähnelte in vielerlei Hinsicht dem Ersten Weltkrieg weit mehr als beispielsweise der letzte große Konflikt in Europa vor 1914, der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71. In Nordamerika war ein existentieller Konflikt bis zur Vernichtung eines der Kontrahenten ausgetragen worden, in dem neben der Menschenzahl schließlich die größere industrielle Produktionskraft des Nordens den Ausschlag gegeben hatte. Die meisten europäischen Militärs hielten die dort gemachten Erfahrungen jedoch nicht für übertragbar. Ihr Kriegsbild blieb von den kurzen europäischen Staatenduellen des 19. Jahrhunderts geprägt.





Industrieller Krieg

Spätestens 1916 zeichnete sich mit den großen „Materialschlachten“ bei Verdun (Februar bis Dezember) und der Anfang Juli gestarteten britisch-französischen Großoffensive an der Somme  (bis November) ab, daß die Kriegführung nicht mehr allein von der Quantität und Qualität der militärischen Kämpfer abhing, sondern sich vielmehr auf die industrielle Potenz der kombattanten Staaten stützte. Zum 100. Jahrestag der Somme-Schlacht startet die JF eine dreiteilige Serie über die Bedeutung der wirtschaftlichen Grundlagen für die Kriegführung.