© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Publizistischer Geburtshelfer des Deutschen Reiches
Zum 200. Geburtstag des schlesischen Schriftstellers Gustav Freytag
Dirk Glaser

Nur Karl Mays Abenteuergeschichten verkauften sich besser. Aber die, als Trivialliteratur eingestuft, schafften es nicht in die Bücherschränke des deutschen Bildungsbürgertums. Stattdessen prunkte dort der Kaufmannsroman „Soll und Haben“ (1855), von dem bis 1960 eine Million Exemplare gedruckt worden waren. Der auf nationale Identitätsstiftung angelegte Wälzer, der dem Motto gehorchte, das deutsche Volk „in seiner Tätigkeit, bei seiner Arbeit“ zu zeigen, machte, zusammen mit der in zahllosen Ausgaben verbreiteten monumentalen Kulturgeschichte „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (1858–1867) und mit dem sechsbändigen historischen Epos „Die Ahnen“ (1872–1880), seinen Autor, den am 13. Juli vor 200 Jahren im schlesischen Kreuzburg geborenen Gustav Freytag zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. 

Das Bewußtsein im Sinne der Reichseinigung wandeln

Von dem Ruhm ist wenig geblieben. Nach 1960 sank Freytags Kurswert rasend schnell. Nur die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ verlockten bis zur Jahrtausendwende noch Verleger, das Risiko aufwendiger Neuausgaben einzugehen. Ihre Kalkulation gründete sich auf das positive Urteil, das selbst härteste Freytag-Kritiker über die stilistisch glänzend geschriebene 2.400seitige, quellensatte Präsentation deutscher Geschichte von der Völkerwanderungszeit bis zur Märzrevolution von 1848 fällten. Als „Geschichte von unten“ und als Einfühlung in das Schicksal der Schwachen, der Millionen „kleiner Leute“, die stets unter den Haupt- und Staatsaktionen der Herrschenden litten, behauptet sich das Werk bis heute als geradezu „materialistischer“ Klassiker der Kulturgeschichtsschreibung.

Vergessen sind hingegen Freytags Dramen, der einst viel gelesene Roman „Die verlorene Handschrift“ (1864), die nach seinem Tod 1895 veröffentlichten und umgehend zum „Hausbuch“ avancierten „Briefe an seine Gattin“ sowie die zweite Hälfte seines Lebenswerks, die Artikel und Aufsätze des politischen Schriftstellers, den Zeitgenossen zu den führenden Publizisten zählten, die halfen, das Deutsche Reich von 1871 zu „erstreiten“.

Während aber das Interesse an dem Literaten Freytag langsam erlosch, nahm – zumindest im wissenschaftlichen Rahmen – die Neugier auf den Publizisten zu, der sich auch kurz, von 1867 bis 1870, und wenig erfolgreich als Parlamentarier im Norddeutschen Reichstag versuchte. Denn kaum ein anderer als Freytag, der 1848 mit dem Westpreußen Julian Schmidt die Zeitschrift Die Grenzboten als schärfste Waffe im Kampf für die unter Preußens Führung voranzutreibende „kleindeutsche“ Einheit schuf, schien besser geeignet, um sich Zugang zu den Problemen der gärenden Epoche zwischen der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 und der Reichseinigung zu verschaffen. 

Was die Neugier begünstigte, war der Umstand, daß der Breslauer Privatdozent für deutsche Sprache und Dichtung, der erst mit 32 Jahren die Universitätslaufbahn verließ, um sich in die politische Arena zu stürzen, sich für die von „1968“ geprägte Forschergeneration als verblüffend „anschlußfähig“ erwies. Schon das Konzept, ab 1853 mit einem konspirativ tätigen Nachrichtenbüro multimedial, mit Korrespondenzen, Artikeln, Broschüren und „Volksbüchern“ die „öffentliche Meinung revolutionieren“ zu wollen, um durch einen Bewußtseinswandel die „Lösung der deutschen Frage“ zu erreichen, erinnert an Antonio Gramscis (1891–1937) Theorie von der „kulturellen Hegemonie“, die jeder gesellschaftlichen Umwälzung vorausgehen muß. 

Sympathisch erschien Freytag auch als unbeugsamer Liberaler, den seine Prinzipientreue in unversöhnlichen Gegensatz zu Bismarck bugsierte. Vom Reichskanzler trennte den Bewunderer westeuropäischer Zivilisation dessen auf Rußland fixierte Außenpolitik. Dicht an der Grenze zu Russisch-Polen aufgewachsen, blieb der Sohn des Kreuzburger Bürgermeisters, der sich 1813 der zur Befreiung Preußens eingefallenen Kosaken zu erwehren hatte, lebenslang ein Verächter östlicher „Barbarei“. Und wie die meisten, den Ideen der Aufklärung verpflichteten, im Kern atheistischen nationalliberalen Stimmführer verfocht Freytag die Trennung von Staat und Kirche und ließ seinem Haß auf die „ultramontanen Reichsfeinde“ der römischen Kirche freien Lauf.  

Im krassen Kontrast zu Leopold von Rankes Diktum, wonach jede Epoche nach ihren eigenen Maßstäben zu beurteilen sei, hatte der „Fortschrittler“ Freytag in seinen „Bildern der deutschen Vergangenheit“ das Recht der Historiker proklamiert, „alle Vergangenheit nach dem Bedürfnis und den Forderungen ihrer eigenen Zeit zu deuten“. Danach ist die wissenschaftliche Freytag-Rezeption tatsächlich verfahren, da sie dem moderaten, aufgeklärten Liberalen attestierte, es lohne die Beschäftigung mit ihm noch. Die „Forderungen“ der Gegenwart  legte sie allerdings auch rigoros an dessen literarisches Hauptwerk „Soll und Haben“ an. Und danach verwandelte sich der gute Liberale in den bösen Antisemiten. Den diensthabenden Oberlehrer der Süddeutschen Zeitung kostete es daher in einem Gedenkartikel zu Freytags 100. Todestag am 30. April 1995 keine Mühe, dieses Datum mit Adolf Hitlers Selbstmord vom 30. April 1945 kurzzuschließen, um den „bürgerlichen Neid- und Dünkel-Antisemitismus“, wie er in „Soll und Haben“ dem „manichäischen Grundmuster“ von den honorigen deutschen Kaufleuten und den kriminellen jüdischen Spekulanten eingeschrieben sei, als Vorläufer des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus zu klassifizieren. 

Antisemitismusvorwurf  steht heute im Mittelpunkt

Dank einiger philologisch feinmechanisch operierender, um präzise historische Kontextualisierung besorgter, den platten Refrain „Vorurteil“ verdrängender Untersuchungen, die zwischen 1970 und 1990 erschienen waren, sah es zunächst so aus, als bliebe einem Autor, der noch 1893 dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus beitrat und der seit 1850 die Assimilation als „Lösung der Judenfrage“ empfahl, eine derart simple Einschachtelung nach dem Muster von „Luther zu Hitler“ erspart. 

Doch von den Ansprüchen der Debattenkultur in den 1970ern, denen Jürgen Habermas zufolge idealiter eigentlich nur vernünftig begründete Argumente gelten sollten, hatte man sich 1995 längst entfernt. Der Klimaumschwung deutete sich speziell für Gustav Freytag 1977 an, als nicht einmal eine linke Ikone wie Rainer Werner Fassbinder sein Projekt durchsetzen konnte, „Soll und Haben“ zu verfilmen. Wie dann die Reaktionen auf Ernst Nolte im „Historikerstreit“ (1986) und zuletzt die Auslassungen anläßlich der Edition von Martin Heideggers „Schwarzen Heften“ belegen (zuletzt JF 14/16), ist eine selbst minimalen intellektuellen Anforderungen genügende Behandlung des Themas „Antisemitismus“ in Deutschland bis auf weiteres weder politisch noch wissenschaftlich möglich. 

Foto: Gustav Freytag (1816–1895); sein Millionen-erfolg „Soll und Haben“ von 1855: Heute ist er Opfer seines eigenen Diktums, alle Vergangenheit nach den Forderungen ihrer eigenen Zeit zu deuten